CHARA PRIVAT
Das kleine schwarze Buch
340 nGF bis 341 nGF - Valianisches Imperium, Aschran | I | II | III | IV | V | VI | VII | VIII | IX | X | XI | XII | XIII | XIV | XV |
Mitte 342 nGF bis 343 nGF - Aschran, Kabugna-Inseln, Chryseia, Alba, Valianisches Imperium | XVI | XVII | XVIII | XIX | XX | XXI | XXII | XXIII | XXIV | ||||||
344 nGF bis Ende 345 nGF - Moravod, Aschran, Valland, Rawindra | XXV | XXVI | XXVII | XXVIII | XXIX | XXX | XXXI | XXXII | XXXIII | ||||||
Ende 345 nGF bis Ende 347 nGF - Aschran, Ywerddon, Kabugna-Inseln, Erainn | XXXIV | XXXV | XXXVI | XXXVII |
Was sie über mich wissen
Sie kennen meinen Namen. Er stand auf einem Fetzen Pergament. Nicht auf dem Fetzen standen meine zahlreichen Kosenamen: Die Skrupellose, Gottesfeindin, Totschlägerin, Chaosbringerin ... Nicht auf dem Fetzen standen die Namen meiner Erzeuger. Und es gab auch nicht den geringsten Hinweis auf meine eigentliche Herkunft. Aber was soll's. Hintergrunddaten sind wie Kelche ohne Inhalt – hohl und ohne jeden Geschmack.
Mein Name ist Chara. Ich habe schwarze Haare, schwarze Augen und bin mittelgroß. Mein Bizeps ist recht beeindruckend, ebenso wie mein Hintern. Eigentlich ist alles an mir aus grundsolidem, stahlhartem Muskel. Erfreulich, oder nicht? Jedenfalls ist es das, was meinen Körper zu meinem Körper macht.
Ach ja, ich bin eine Frau! Und jeder, der etwas anderes behauptet ... Scheiß drauf – ich wäre lieber als Mann auf die Welt gekommen. Das kann ich kaum leugnen, das lässt sich nicht übersehen.
Noch mal in aller Kürze: Ich bin mittelgroß, schwarzhaarig, muskulös und für viele Männer nicht gerade das, was sie von einer Frau erwarten, mit der sie das Bett teilen.
Mein Beruf?
Darüber spreche ich nicht.
Warum? Ich habe den Befehl, zu schweigen. Daraus lässt sich schließen, dass ich Befehle befolge. Ich bin also eine Befehlsempfängerin, um genau zu sein, eine Dienerin par excellence. Was das bedeutet? Nun, das bedeutet, dass ich keinen eigenen Willen habe, geschweige denn ein eigenes Leben. Wie ich zu sein bedeutet zweierlei: Erstens, du tust immer (ohne Ausnahme) das, was man dir sagt. Und zweitens: Heul bloß nicht! Nie!
Infolgedessen sieht man mich nie in Tränen aufgelöst. Naja, so gut wie nie. Kein Gefühl! Oder fast keines.
So war ich.
Und das bin ich heute:
Selbstlos aber nicht frei von Bedürfnissen, besitzlos aber nicht unvermögend, vereinnahmt aber nicht unfrei, besessen aber nicht wahnsinnig, kalt aber nicht frigide, kompromisslos aber nicht unflexibel, direkt aber nicht immer beleidigend.
Um es auf den Punkt zu bringen. Ich bin heute nicht mehr das, was ich am Anfang war. Ich bin aber immer noch Chara. Und Chara hat noch immer ein paar grundlegende Eigenschaften, die sie dazu bewegen, gewisse Dinge zu tun und andere zu lassen. An diesem Punkt meiner Geschichte gilt es herauszufinden, was aus mir geworden ist und was ich in Zukunft sein oder tun werde. Dabei lässt es sich nicht vermeiden, ein paar Komponenten meines Charakters zur Reflexion hinzuzuziehen. Jede dieser Komponenten hängt an einer Person, die ich nicht bin. Jede dieser Komponenten hat eine Phase meiner Entwicklung entscheidend geprägt. Jede dieser Komponenten hat einen Namen.
Sie heißen Thorn Gandir, Telos Malakin, Bargh Barrowsøn, Lucretia L'Incarto, Siralen ...
Im Zentrum dieser Namen steht wiederum ein ganz besonderer - groß und deutlich und geschrieben mit Blut. Meinem Blut. Al'Jebal.
All diese Namen werden mir dabei helfen zu klären, wohin mein Weg mich führen wird, denn sie sind das einzig Fassbare in einem Meer aus unfassbaren Fakten und Informationen. Und da ich weiß, dass der Mensch zuallererst Prägung ist und nicht Anlage, gehe ich davon aus, dass ich vor allem dazu gemacht wurde, was ich heute bin und mein Ursprung nur sehr marginal eine Rolle für die Eigenschaften meines Charakters spielt. Von daher – drauf geschissen, wer meine Erzeuger sind! Viel interessanter ist die Frage: Wer sind meine Macher?
Die Macher - Thorn Gandir
Was tun wir, bevor wir uns entscheiden zu kämpfen?
Wir wägen ab, wofür es sich zu kämpfen lohnt.
Thorn Gandir hatte diese Hürde bereits genommen. Der Waldläufer, den ich als Zielperson auserwählt hatte, wusste, wofür es zu kämpfen lohnt, als ich ihm das erste Mal begegnete, oder er dachte zumindest, es zu wissen.
Fakt ist, Thorn Gandir hatte keine Ahnung, auf welchem Boden sich ein Kampf wie dieser austragen ließ. Er wusste weder, was genau jener wohlgestaltete Begriff der Ordnung bedeutete, in dessen Namen er sich dazu hinreißen ließ, sein Schwert zu ziehen, noch wusste er, ob jene, die auf seiner Seite standen, tatsächlich ein hehres Ziel verfolgten oder ihm wohlgesinnt waren. Ich jedenfalls war es nicht. Und ich tat alles dafür, diese Wahrheit von ihm fernzuhalten.
Die Ordnung hatte und hat längst nicht so lichte Aspekte, wie sie sich gemeinhin darstellt, ist längst nicht so gesetzestreu, wie ihr Name es so vehement zum Ausdruck bringt. Aber beides, Chaos und Ordnung waren uns damals sinnleere Begriffe, und ich will mir an dieser Stelle den Verstand nicht mit haltlosen Gedanken über die beiden Urmächte vernebeln, die unsere Welt zum Leben erweckten. Es ist zu früh.
Was aber wissen wir über Menschen, die sich wie Thorn Gandir dem Kampf für die Liebe und gegen den Tod widmen? Was wissen wir über die, welche das Chaos in seiner lebensverachtenden Natur ablehnen? Nun, wir wissen, dass sie vor allem eine Sache für sich in Anspruch nehmen: Die Erkenntnis, dass das Gute bewahrt und das Böse vernichtet werden muss.
Und wie gelangten sie zu jener Gewissheit? Sie alle haben irgendwann einmal geliebt. Und sie alle glauben, dass sich in der Liebe das Gute dieser Welt widerspiegelt.
Ich behaupte wiederum, dass die Liebe uns auf uns selbst und unsere Bedürfnisse zurückwirft und dass sie deshalb als gefährlich eingestuft werden muss. Jeder, der in ihrem Namen kämpft, ist ein Sklave seiner Gefühle, ein Handlanger seiner naturgegebenen Neigung, glücklich zu sein. Thorn Gandir bewies es mir. Vom Anbeginn der Geschichte war er von egoistischen Motiven gesteuert – von dem Sinnen auf die Rettung seiner Geliebten, dem Wunsch, mit ihr glücklich zu werden, von dem Bedürfnis, sich für ihren Tod zu rächen, dem Drang, seinem Dasein einen ganz besonderen Sinn zu verleihen, indem er sich als Held der Ordnung zu etablieren gedachte.
Das Valianische Imperium, so wie ich es vorfand, nachdem ich auf Befehl meines damaligen Auftraggebers in die Hauptstadt gereist war, war „sauber", so wie Thorn Gandir, der mir den Kontakt zu den engsten Kreisen sichern sollte. Struktur und Ordnung – dies war der Kern der valianischen Justiz, des Senats, des Militärs. Hell und hehr gaben sich die Valianer, von lichter Gesinnung sollten ihrer Gemüter und von prächtigem Glanz ihre Städte sein. Nichts von alledem traf zu.
Thorn Gandir aber sah dies nicht. Denn er wollte nichts mehr, als geliebt werden. Er wollte, dass die Wesen unserer Welt einander lieben. Ein ehrvolles Begehr, wie man meinen möchte. Und dabei will ich es vorerst auch belassen. Ich belasse es bei der Feststellung, dass Thorn Gandir am Beginn eines Kampfes stand, als ich ihn das erste Mal traf – so wie der Rest von uns. Er kämpfte für die Ordnung, weil er dachte, die Mächte der Ordnung gewährleisten den Fortbestand des Lebens und damit einen Sieg der Liebe über den Tod.
So hat alles begonnen. Thorn Gandir kämpfte für die Liebe. Ich kämpfte gegen sie.
Als ich dem Waldläufer das erste Mal begegnete, war ich seelenlos und Thorn Gandir mein Feind.
Thorn Gandir - Erste Begegnung
Der Name auf dem Schild über der Taverne schrie nach Unannehmlichkeiten. Ich würde in diesem Etablissement auffallen, vermutlich unangenehm, aber das war ich gewohnt. Es hielt mich jedenfalls nicht davon ab, meine behandschuhte Rechte auszustrecken, die Tür nach innen zu stoßen und einzutreten. Sofort hatte mich das gedämpfte Licht der Öllampen und Kerzen, die überall auf den Tischen standen, eingehüllt; einen Augenblick später hafteten nahezu alle Augenpaare auf mir. Es lag an meinem Äußeren, wie mir nur zu bewusst war. Es entsprach nun mal nicht der Norm. Und darum gab es nur wenige, die mich übersahen. Alles wie gehabt.
Die beiden Türsteher waren die einzigen, die sich von meinem Auftritt nicht aus dem Konzept bringen ließen. Unbeeindruckt hielt mir einer von ihnen die Hand hin und forderte mich dazu auf, die Waffen abzugeben. Ebenso unbeeindruckt tat ich, wie mir geheißen, löste die beiden Dolche aus meinem Waffengürtel, drückte sie ihm in seine geöffnete Hand und verschwieg die Messer in meinen Stiefeln. In Wirklichkeit kräht in einer Taverne kein Hahn danach, ob man irgendwelche Waffen einschleust. Wie sonst käme es so häufig zu Gasthausschlägereien und tödlichen Zwischenfällen?
Ich warf meinen Mantel über den Ständer neben dem Eingang und tat, als wäre die Theke das einzige Objekt von Interesse innerhalb der Gaststube. Die Blicke folgten mir auf meinem Weg durch die Tische. Ich ignorierte sie und konzentrierte mich darauf, die Gesichter, die ich aus dem Augenwinkel erspähen konnte, in Kategorien zu unterteilen. Dabei versuchte ich, mich an jenes Zielobjekt heranzuarbeiten, dessentwegen ich gekommen war. Ohne Erfolg. Alles, was ich feststellen konnte, war, dass bereits eine gewisse Unruhe vorherrschte und dass diese von einem Zwischenfall herrührte, der kurz vor meinem Eintreffen stattgefunden haben musste – irritierend, aber nicht genug, um meine Suche abzubrechen. Sicher, es hätte mich brennend interessiert, an welchem Tisch sich der Disput zugetragen hatte und wer darin involviert war. Doch keiner der Gäste, die ich erspähte, verhielt sich auffällig.
Als ich vor die Theke trat, zog ich meine Handschuhe aus und ließ sie auf die blank polierte Ausschank fallen. In meinem Nacken spürte ich noch immer die Blicke der nach Attraktion geifernden Gesellschaft Valianors.
Menschen und ihre Neugier. Hier war zu viel von beidem, jedenfalls für meinen Geschmack.
Der Wirt beeilte sich, von einem der Tische zurückzukommen und trat mir auf der anderen Seite der Theke mit eifrigem Wohlmeinen in seinem abgebrühten Gesicht gegenüber.
„Was wollt Ihr trinken?“
Ich schob einen Silberling über den Tresen.
„Wein oder Bier. Je nachdem, was ich mir leisten kann.“
„Bier. Mehr ist nicht drin“, antwortete er fahrig.
Ich nickte. Dabei fragte ich mich, ob mein Zielobjekt an diesem Abend überhaupt anwesend war, und falls ja, ob es mich wie die meisten anderen gerade beobachtete. Ersteres stand zu hoffen. Sicher war nur, dass der Held des Imperiums regelmäßig den Gladiator aufsuchte. Das hatte ich über Thorn Gandir in Erfahrung gebracht. Mehr nicht.
Ich griff nach dem Humpen, den der Wirt vor mir abstellte, wandte mich um und lehnte mich mit dem Rücken gegen den Tresen. Endlich konnte ich die Leute in Augenschein nehmen, ohne dabei aufzufallen. Während mein Blick durch den Raum schweifte, gingen mir die Worte meines Auftraggebers durch den Kopf: Ebnet Euch den Weg zur Spitze Valianors!
Es hatte eine Weile gedauert, bis ich den Namen einer Person ausfindig gemacht hatte, die mir genau dies ermöglichen konnte. Ich hatte sie gefunden. Und nun war ich hier, um sie mir anzusehen. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung, dass ich damit den ersten Schritt tat, der mich geradewegs in Alamans Küche bringen würde. In jenem Augenblick, als ich entschied, mich an Thorn Gandirs Fersen zu heften, betrat ich den Weg, der mich zu Al’Jebal führen sollte. Aber davon wusste ich damals nichts.
Was ich wusste, war, dass die Vorkommnisse in Valianor und dem gesamten Valianischen Imperium das Interesse meines aktuellen Auftraggebers auf sich zogen. Das war’s.
'Du bist so einfältig, Chara!'
Ja ich weiß, Lindawen. So wie jeder, der denkt, er wüsste über mich Bescheid!
Ich leerte meinen Becher zur Hälfte und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen.
Und dann sah ich sie. Es waren zwei Männer, die sich gerade von ihren Stühlen erhoben. Sie hatten an einem Tisch im letzten Winkel gesessen und wollten die Taverne allem Anschein nach verlassen. Einer der beiden sah aus, als hätte er eben erst ums nackte Überleben gekämpft. Er trug einen Umhang mit Kapuze, die zurückgeschlagen war. Seine Augen saßen in tiefen, dunklen Höhlen, die Wangenknochen traten unnatürlich hervor und legten über das ansonsten lebhafte Gesicht einen Schatten des Todes. Es war nicht zu übersehen, dass der Mann tagelang nichts gegessen hatte. Seine ganze Erscheinung schrie nach Verwahrlosung. Der andere ... Nun, er entsprach exakt dem Bild, das man mir beschrieben hatte, als ich nach dem Helden des Valianischen Imperiums fragte. Valianor kannte den Waldläufer aus Alba, den der Senatsvorsitzende vor einigen Jahren in die Pflicht genommen hatte. Er hatte sich einen Namen gemacht, war zum Kommandanten der valianischen Legionen aufgestiegen. Und ich? Ich hatte gefunden, wonach ich suchte.
Dort stand er, seinen Umhang von der Stuhllehne zerrend, seinem Saufkumpanen grinsend etwas zumurmelnd, und er sah aus wie jemand, der das Leben über alles liebte. Rosige Wangen, sehnsüchtiger Blick ...
Seine Erscheinung war ansehnlich – muskulöse Schultern, großgewachsener Körper, markante Gesichtszüge, schmale, beinahe elfische Augen. Für mich aber war er nichts weiter als der Fisch, der meinen Köder schlucken musste – einen Köder, den ich noch nicht ausgeworfen hatte.
Während ich das Bier in meinem Mund hin und her schwemmte, beobachtete ich, wie sich die beiden von den Türstehern ihre Schwerter reichen ließen. Doch bevor sie durch die Schwingtür nach draußen verschwanden, drehte sich Thorn Gandir um ... und blickte mir direkt ins Gesicht. Ich ließ meinen Blick weiterwandern, als hätte er lediglich eine Bahn durch die Gaststätte gezogen und den Waldläufer nur gestreift.
Dann fiel die Tür zu. Thorn Gandir und sein Begleiter hatten die Taverne verlassen.
Ich ließ den Humpen auf die Theke knallen, schlenderte zwischen den Tischen hindurch zum Ausgang, nahm meine Waffen entgegen und verschwand nach draußen, wo ich die Fährte aufnahm.
Evolution
Aus meinen privaten Aufzeichnungen vom Naondag, 2. Trideade im Nixenmond, 349 nGF
Ich stand auf einem Felsen, der über das Meer hinausragte. Vor mir nichts als der endlose Ozean. Hinter mir nichts als karges Wüstengebiet. Meine Arme hielt ich seitlich von meinem Körper gestreckt, die Hände wie zwei warnende Signale für alles, das von außen an mich ran wollte. Die Augen hielt ich geschlossen, meistens jedenfalls. Ich öffntete sie nur, um zu sehen, was es zu sehen galt, weil es relevant für mein augenblickliches Ziel war – den konkreten Auftrag, die momentane Lage und Situation.
Von hinten bestrahlte mich die heiße, verderbliche Sonne meiner Vergangenheit – ödes Land, unbebautes Gebiet, lebloses Nichts. Wozu mich also umdrehen? Wozu mir die Haut, die Augen verbrennen? Wo nichts ist, wird auch nichts sein. Alles, was die leere Einöde hinter mir versprach, beschränkte sich auf meine Erinnerungen an die Straßen Agyras und meine Ausbildung. Das war's. Das war und ist meine Geschichte. Also, wozu mich umdrehen?
Aber vor mir, vor mir lag der endlose Ozean. Durch die schmalen Schlitze meiner halbgeschlossenen Lider drang das Licht des tiefblauen, bewegten Wassers, das voller Geheimnisse war – voller ungelöster Rätsel, voller Leben. Ich wollte es nicht sehen. Ich wollte die Augen geschlossen halten. Ich wollte mich vor dem Anblick verschließen, weil ich wusste, weil ich fühlte, dass ich seiner unergründlichen Weite, seiner schwarzen Tiefe nicht gewachsen bin, dass ich ihr nie gewachsen sein werde. Ich konnte nicht darauf hoffen, zu begreifen, was dort verborgen lag. Ich konnte nicht darauf vertrauen, dass ich lange genug hier sein werde, um die Rätsel zu entwirren, die Geschichte zu verstehen, die Welt zu verändern. Meine Zeit war zu begrenzt, mein Geist zu klein und einfältig, meine Macht zu kümmerlich und meine Fähigkeiten ... nicht erwähnenswert. Das Wissen um die Tatsache, dass ich ein Mensch bin und zwar einer der unschönen, unwürdigen Art, war wie eine Warnung. Es war mir wie die Mahnung, meine Finger von allem zu lassen, das für Höheres bestimmt war – die Geschichte unserer Welt, das Rätsel aller Rätsel.
Ja, die ausgestreckten Arme, deren gestählte Struktur alles von mir fernhielt, das mich berühren, beleben, bewegen konnte, waren mir der einzige Schutz davor, überwältigt zu werden. Meine geschlossenen Lider, die mich davor bewahrten, dass die Eindeutigkeit meines klaren Prinzips von der Vieldeutigkeit des Lebens und des Seins unterwandert werden würde, waren die einzige Waffe, die ich gegen den natürlichen Drang besaß, das Rätsel zu lösen und Einfluss auf diese Welt zu nehmen.
Doch die Neugier hat gesiegt. Der blaue Ozean war zu verlockend. Die Wüste in meinem Rücken zu dürr, zu inhaltslos, um mich damit zufrieden zu geben. Also öffnete ich meine Augen. Ich öffnete meine Augen und sprang ...
Heute hat die Welt vor diesen Augen Geschichte geschrieben. Überfluss, Vagheit und Vieldeutigkeit haben diese Augen geblendet, ihr Licht in tausend Spektren zerteilt und zersplittert. Heute haben diese Augen zu viel gesehen. Sie haben gesehen, was mein Verstand nicht fassen kann und mein Herz nicht begreifen will. Sie haben gesehen, was ich nie sehen wollte, weil ich wusste, dass ich es zu verstehen nicht imstande und zu verändern nicht fähig bin.
Ich hätte meine Augen nie öffnen dürfen.
Doch ich habe sie geöffnet. Ich bin gesprungen. Und so bin ich hier.
Das Augenlicht, dessen ich mich jetzt bediene, zeigt mir eine Wahrheit, die sich mir bisher entzogen hatte – eine der vielen Wahrheiten, von denen keine überzeugender als die andere ist.
Es gibt das Böse nicht. Es gibt keinen Schuldigen, niemanden, den man zur Verantwortung ziehen könnte. Das Arschloch, das man vor den Richter zerren und verurteilen kann, ist unter all den Akteuren in diesem unerfreulichen Spiel leider nicht ausfindig zu machen. Denn wir sind alle nicht zurechnungsfähig, wenn man uns in Relation zu all den Begebenheiten setzt, die um uns herum passieren. Wir sind keine Akteure. Wir sind Reaktionäre.
Wir können nur auf das reagieren, was geschieht. Wir haben zu keiner Zeit die Fäden in der Hand, die Lage unter Kontrolle, den Überblick über alle Fakten, die relevant sind. Und das betrifft nicht nur die Menschen, das betrifft alle Lebewesen. Das betrifft uns Geschöpfe ebenso wie unsere Schöpfer, unter anderem die Thanatanen, die sich auch Gottra nennen. Selbst sie sind nur Opfer ihres eigenen Unvermögens, alle Eventualitäten zu berücksichtigen, alles im Griff oder im Auge zu behalten. Sie sind nichts weiter, als mächtige Wesen, deren Macht beschränkt ist. So wie die Götter und jeder, der sich selbst für das Alpha und Omega hält, den Anfang und das Ende.
Niemand ist von absoluter Macht. Denn dies ist es, was Existieren bedeutet – es ist der Austritt der Idee aus dem grenzenlosen Raum des Geistes in die gesetzestreue Welt des Wirklichen. Wo Gesetze herrschen, herrschen klarerweise auch Grenzen. Und da alles, was ist, irgendwelchen Gesetzen folgt, ist auch alles begrenzt. Sogar der Meister selbst.
Ich bin also gesprungen. Die Weite des dunklen Ozeans hat mich verschluckt und wieder ausgespien. Und heute treibe ich auf dem Wasser – Bauch nach unten, Augen nach vorne – und sehe nichts als das tiefe Blau des Ozeans und die glitzernden weißen Schaumkronen der sich brechenden Wellen in der Ferne. Ich sehe das Meer, das sich vor mir erstreckt und kein Ende findet, weil der Horizont sich verschiebt, sobald ich vorankomme – unaufhörlich, mit jedem Blick ein Stück weiter, immer weiter und weiter, bis ich das Gefühl habe, die Unendlichkeit lässt meinen letzten klaren Gedanken so weit ins Uferlose gehen, bis er sich selbst verliert.
Ich war ein Waisenkind und wurde zu einem Straßenkind. Ich war eine Ausführende und wurde zu einer Führenden. Ich war eine Gefangene und wurde frei. Ich war ein Werkzeug und wurde zum Werk. Und heute bin ich hier. Dies ist das, was die Evolution für mich geplant hatte. Fragt sich nur, wer der Schöpfer der Idee für diesen Plan war. Doch die Antwort auf die Frage ist so bedeutungslos wie jede Frage, die sich auf ein einzelnes Lebewesen in diesem endlosen Meer aus Leben bezieht.
Denn die einzige Frage, die relevant ist, ist die Frage nach dem Alles, seiner Schöpfung und Entwicklung. Und diese Frage werde ich nie beantworten. Diese Frage werde ich nie klären. Denn diese Frage ist für einen Menschen wie mich eine Nummer zu groß. Und ich wusste es.
Trotzdem öffnete ich meine Augen.
Trotzdem bin ich gesprungen.
Die Macher - Bargh Barrowsøn
Bargh und immer wieder Bargh...
Alle liebten sie ihn, alle hielten sie große Stücke auf ihn, aber keiner kannte ihn wirklich. Denn in Wahrheit scherte sich niemand um den Krieger mit den sanftmütigen Augen.
Als ich Bargh das erste Mal begegnete, kam mir der Gedanke, dass nicht jeder mit einem ausreichend funktionstüchtigen Verstand gesegnet sein kann. Der Vallander wirkte auf mich (wie auf jeden anderen auch) naiv, um nicht zu sagen dämlich - ein beilschwingender Athlet mit etwas zu schweren Knochen.
„Ich schätze, ich hab keine Wahl. Und Kampf is' Kampf. Ich bin dabei."
Das ist Bargh, so wie ihn alle kannten und liebten. Wenn es heiß her ging, war Bargh zur Stelle. Stand ein Kampf bevor, war er an vorderster Front. Wenn Gefahr drohte, riefen alle nach dem Krieger aus Valland. Aber sobald es galt, einen Blick in das Innere des Barbaren zu werfen, um ihm auf den Zahn zu fühlen, verflüchtigte sich jedes Interesse urplötzlich. Warum? Niemand vermutete, dass es dort mehr zu sehen gab, als den infantilen Wunsch nach Kampf und Glorie. Wie gesagt, ich dachte zunächst ähnlich über den Vallander. Nach einer Weile aber wurde mir deutlich, dass der Krieger mit den grauen Augen mehr als nur einen gewaltigen Schwertarm und ein paar nette Angewohnheiten zu bieten hatte. Tatsächlich war sein Verstand strukturierter als bei den meisten von uns. Er setzte ihn eben nicht immer ein – genaugenommen nur dann, wenn ihm der Sinn danach stand. Bargh hatte in der Tat ein Motiv dafür, in den Kampf zu ziehen und dieses war von geradezu bestechender Einfachheit – Rache. Nur fragte niemand danach, weil niemand sich für den Vallander interessierte. Es gab nur ein einziges Gespräch, in dem Bargh mir anvertraute, worum es sich bei seinem Kampf tatsächlich drehte und dieses fand erst drei Jahre nach meiner ersten Begegnung mit ihm statt. Damals wurde mir schlagartig bewusst, dass Bargh genau jene Schwäche verkörperte, die ich in mir ausgemerzt zu haben glaubte. Er war ein Krieger aus Leidenschaft, ein Mann des Gefühls. Ich war eine Kriegerin des Kalküls, eine Frau des Gedankens. Zumindest verhielt es sich damals so.
Bargh jedenfalls wusste wie Thorn, wofür es sich zu kämpfen lohnte. Doch sein Kampf war ein Kampf Herz gegen Verstand und diesen Kampf kann man nicht gewinnen. Fakt ist, der vallandische Krieger war brillant im Umgang mit der Waffe, aber schwach im Umgang mit dem Impuls, der die Schwerthand bestimmte. Bargh war berechnend auf der einen, und ein Opfer seiner Gefühle auf der anderen Seite. Und Letzteres wurde ihm schließlich zum Verhängnis.
Bargh Barrowsøn - Erste Begegnung
Es war immer das Gleiche mit den Vertretern des Imperiums. Ohne Ave, Habt Acht-Stellung, mindestens an die sechzehn Urkunden und einer ordentlichen Portion Arschkriecherei kam man nicht an ihnen vorbei. Und so verhielt es sich auch am Südtor Valianors, bevor ich das erste Mal Fuß auf den Boden der Hauptstadt setzte. Fünf Legionäre rechts, fünf links und in der Mitte der Telonarius, der sich für einen verfluchten Senator hielt.
Ja, ich bin Valiani, ja, ich kann mich ausweisen, Ave Valian!, Heil dem Senat! Und ich schwöre, ich bin nur eine Söldnerin auf der Suche nach einer Anstellung.
„Eure Urkunden sehen sauber aus!"
Worauf ich meinen Arsch verwette. „Der Große Gryphos sei mein Zeuge!"
„Ich kann Euch trotzdem nicht passieren lassen." Da war eindeutig ein provokanter Unterton in der akzentlosen Stimme des Telonarius, aber ich gab mich unbeteiligt.
„Und woran mag das liegen?"
Er taxierte mich von Kopf bis Fuß und dabei war nicht zu übersehen, dass er das Lächeln, das ihm über die Lippen zu tänzeln drohte, krampfhaft unterdrückte.
„Zunächst mal seid Ihr eine Frau."
„Und?"
„Ich nehme doch an, es ist Euch bekannt, dass Frauen nur in Ausnahmefällen als Soldaten oder Krieger angeheuert werden."
Was keinerlei Erklärung darstellte. Ich schwieg und wartete ab, während ich die steinernen Rundbögen hinter dem Zollbeamten inspizierte, die einen der beiden Tortunnel vom äußeren zum inneren Stadttor stützten. Schon jetzt ahnte ich, dass Valianor um einiges größer war als die Städte, die ich bis dahin gesehen hatte. Darauf war ich nicht vorbereitet.
„Und dann wäre da noch Eure Waffe ..." Er nickte in Richtung der Zweihandwaffe, die ich in einer Halterung auf meinem Rücken trug. „Was soll das sein?"
„Ein Schaft mit je einer Klinge auf beiden Seiten."
Sein Mundwinkel knitterte. „Das sehe ich auch! Solche Waffen sind mir unbekannt und werden hier nicht geführt."
„Gerade deshalb könnten sie ja auch besonders effizient sein."
„Da hat sie Recht!", grinste einer der Wachposten herüber, während er mit einem knappen Schwenk seines Pilum einem Passanten den Weg versperrte.
Mein Beamter bedachte ihn mit einem warnenden Blick. „Konzentriert Euch gefälligst auf Eure Arbeit, Legionär!", blaffte er, bevor er sein Augenmerk erneut auf mich lenkte. Ein wölfisches Lächeln legte seine Zähne frei.
„Nun, Tatsache ist, dass Ihr sauber seid und dass ich deshalb ..."
„ ... keinen wie auch immer gearteten Grund habt, mir den Aufenthalt in Valianor zu verweigern ...", abgesehen davon, dass dir hier der Hintern wässrig wird und es dir einen kleinen Aufwind gibt, mir mal eben deutlich zu machen, wer hier das Sagen hat ... „Ich wünsche Euch einen angenehmen Tag ..."
... und jede Menge Scherereien mit den Passanten ...
Der Telonarius grinste erneut. „Ave Valian, Gnädigste!"
„Heil dem Senat!", gab ich pflichtschuldig zurück und richtete meinen Blick durch den Tunnel ins Licht.
„Ach ja!" Ich drehte mich noch einmal um. „Wo finde ich die Taverne zum Vermusschwert?"
„Im Hafen."
Als ich mich abwandte, spürte ich seine Blicke im Nacken und wieder einmal bereute ich, dass ich aussah, wie ich eben aussah. Für die reibungslose Ausübung meiner Pflichten war ich eindeutig zu auffällig. Schon daran scheiterte es, dass ich den herkömmlichen Weg einer Person meiner Profession beschreiten konnte, und das stimmte mich nicht gerade zuversichtlich, besonders nicht im Hinblick auf das, was mich nach Valianor geführt hatte.
Valianor war gewaltig, zumindest in meinen Augen..
Das Auge leidet unter zu vielen unterschiedlichen Eindrücken. Von dem Wechsel aus Farben, Formen und Größen hin- und hergerissen, kommt es nicht zur Ruhe. Das macht den Blick auf das Wesentliche zu einem regelrechten Spießrutenlauf.
In Valinaor war genau das der Fall. Ich hatte stets das Gefühl, die Bilder um mich verzerrten meine Wahrnehmung. Straßen so breit und stromlinienförmig wie gewaltige, reißende Flüsse, bildeten einen fliegenden Wechsel mit schmalen, verfallenen Gassen und spannten sich wie ein Netz über die prunkvollen und monumentalen Bauten des Zentrums und die heruntergekommenen Häuser der Außenbezirke. Zu viele Leute, zu viele Gerüche, zu viele Farben ... Und mittendrin die strikte Ordnung des Militärs, dessen Rekrutierte wie Ameisenkolonnen durch die Häuserschluchten patrouillierten.
Als ich an jenem Tag vom südlichen Stadttor zum Hafen schlenderte, um im Vermusschwert meinen Kontaktmann zu treffen, strömten all diese Eindrücke auf mich ein und machten mich ganz wirr im Kopf.
Tatsächlich benötigte ich fünf Anläufe, bis der Zufall es wollte, dass ich besagten Kontaktmann in der Taverne auch fand. Und als ich bei ihm vorstellig wurde, hatte er nur drei Worte für mich:
„Macht Euch frisch!"
Mir war klar, was das bedeutete. Die elitären Kreise Valianors waren Leuten von auf Hochglanz polierten Erscheinungen vorbehalten – Sauberkeit war also ein erstes und unumgängliches Gebot.
Aber ein Badehaus? Sich mit ein paar Dutzend anderer ein Becken teilen, Hüfte an Hüfte, um sich beim Waschen den Lappen weiterzureichen – das war definitiv nicht mein Stil. Doch ich hatte keine Wahl. Ohne Astorius' Unterstützung sah ich keine Möglichkeit. Also tat ich, was er von mir verlangte und machte mich auf den Weg zu einer von ihm empfohlenen Therme im Zentrum Valianors. Und dort traf ich das erste Mal auf Bargh Barrowsøn, den vallandischen Krieger mit den sanften Augen.
Ich kann mich noch gut erinnern (was nicht ungewöhnlich ist, weil ich mich an so ziemlich alles erinnere, das meinen Werdegang auch nur marginal beeinflusste). Ich hatte mein Bad hinter mich gebracht und stand in dem kreisrunden, von weißen Marmorsäulen eingeschlossenen Raum, von dem aus die einzelnen Bereiche der Therme wegführten – Bäder für die Männer, für die Frauen und für all jene, die ein näheres Studium des anderen Geschlechts anstrebten, sprich, ein gemischter Badebereich.
Um mich herum war eindeutig zu viel Leben. Nur spärlich bedeckte Leiber schoben sich an mir vorbei, von einem zum anderen Teil des Gebäudes und jedes Mal, wenn ich einen von ihnen Haut an Haut spürte, zuckte meine Hand Richtung Hüfte, wo sie ernüchtert innehielt, weil sie ins Leere griff. Meine Waffen waren mir verständlicherweise am Eingang abgenommen worden.
Ich kann noch immer nicht erklären, warum mir Berührungen zutiefst zuwider sind, vielleicht, weil mit jeder Art der Berührung eine Wechselwirkung einhergeht, die eine Eigendynamik entwickeln kann – eine Unberechenbarkeit, eine Unvorhersehbarkeit. Und das kann ich mir einfach nicht leisten. Vielleicht hab ich aber auch nur die Hosen voll.
Ich stand also im Apodyterium, linker Fuß auf einer der sechs steinernen Liegen, die sich zwischen den Säulen um den freien Platz in der Mitte reihten, Unterarm auf meinen Schenkel gestützt, und beobachtete die halbnackten Gestalten um mich herum. Währenddessen wartete ich darauf, dass man mir meine Kleidung brachte und hoffte, dass ich meiner Schuld damit genüge getan hatte.
Eine tiefe Stimme drang aus dem gemischten Badebereich und ließ mich aufhorchen.
„Tschuldigung, war ein Unfall! Ich wollte nich'... auf keinen Fall, Gnädigste!" Der Mann sprach zwar fließend Valianisch, aber mit einem vernehmbar nordischen Akzent.
„Das war kein Unfall, das war Vorsatz", konterte eine Frau und ihr offensichtlicher Gefährte bellte unwirsch dazwischen: „Seht zu, dass Ihr Eure Pranken bei Euch behaltet!"
„Nur die Ruhe. Hab mich doch entschuldigt!" Stimme Nummer Eins. „Aber bei der Größe dieser Dinger is' es kein Wunder, wenn man die Kurve nich' kriegt."
Ich spürte, wie ein Lächeln meinen Mundwinkel hob. Der unbekannte Nordländer versprach eine amüsante Einlage.
„Was erlaubt Ihr Euch!", ereiferte sich jetzt die Frau und noch im gleichen Atemzug erklang ein lautes Schnalzen, gefolgt von einem kurzen Aufstöhnen. Mein zweiter Mundwinkel hob sich und ich fühlte mich schlagartig besser als noch vor ein paar Augenblicken.
Wieder erklang der Bass. „Äh... " Mehr hatte er zu dieser Debatte nicht beizusteuern.
„Macht, dass Ihr verschwindet, sonst fordere ich Euch zum Kampf!" Der gekränkte Gefährte der Frau. Seine Drohung verfing sich in einem Netz der Unsicherheit, in einer von leichten Vibrationen verfremdeten Intonation, und büßte damit eindeutig ihre Wirkung ein. Offensichtlich war der Nordländer von einschüchterndem Äußerem. Eine Annahme, die sich kurz darauf bestätigte, als ein Mann mit hochrotem Kopf zwischen zwei Säulen auftauchte und sich missmutig die Backe rieb. Um seine Hüften hing ein sauberes Tuch – ansonsten war sein Körper so blank wie jeder andere in dem Gebäude. Und dieser Körper war selbst in meinen Augen beachtlich.
Der Fremde aus dem Norden war zweifelsohne ein Krieger. Seine Schultern waren so breit, dass ein Durchschnittskämpfer daneben zur Gänze verblasste. Eine beeindruckende Muskulatur akzentuierte Arme, Brust, Bauch und Beine und ein Schlag dieser Pranken endete für die meisten vermutlich tödlich. Der Mann hatte langes zerzaustes, kupferrotes Haar und einen Bart, den er in zwei Zöpfe gewunden trug. Das einzige nicht Respekteinflößende an ihm waren die Augen. Sie hatten eine blasse Graufärbung und wirkten offen und warmherzig. Und bevor ich die Gelegenheit hatte, meinen Blick abzuwenden, zuckten sie in meine Richtung. Es war zu spät, um die Unbeteiligte zu mimen, also erwiderte ich seinen Blick. Und wie zu erwarten war, resultierte der Blickwechsel in einer Annäherung, die mir ganz und gar nicht gelegen kam.
„Na?", bemerkte der Nordländer, als er den Raum bis zu meiner Liege durchquert hatte und legte mit einem breiten Lächeln seine Zähne frei. Ich antwortete nicht. Stattdessen musterte ich ihn mit, so hoffte ich jedenfalls, ablehnendem Blick und fragte mich, was wohl als Nächstes kam.
Er ließ sich von meinem Blick nicht aus der Ruhe bringen. Beiläufig studierte er mich von Kopf bis Fuß und zwinkerte mir schließlich unverfroren zu. „Ziemlich beeindruckender Körperbau. Hab noch nie eine Frau mit solchen Muskeln gesehen."
„Was wollt Ihr?"
Eine fast kindliche Aufregung blitzte in seiner grauen Iris auf. „Weiß nich' genau. Vielleicht wär's nett, Euch näher kennenzulernen."
Ich spürte, wie meine Augen schmal wurden.
„Vielleicht aber auch nich'", lenkte er hastig ein und zog sich unbeholfen das Tuch um seine Hüften zurecht.
„Seid Ihr von hier?"
„Aus der Gegend", seufzte ich entwaffnet und nahm meinen Fuß von der Liege. Ich hatte die Sklavin gesichtet, die gerade mit meinen Habseligkeiten auf mich zusteuerte. „Ich muss jetzt ..."
„Was habt Ihr denn vor?" Der Mann ließ nicht locker.
Ich schüttelte den Kopf, entfernte mich und nahm in der Mitte des Raums meine Kleidung und Ausrüstung entgegen.
Nachdem ich mich in einem der Ankleideräume fertig gemacht und die Therme durch das Doppelflügeltor verlassen hatte, war der nordische Krieger plötzlich wieder neben mir. Jetzt sah er endgültig wie jemand aus, dem man am besten aus dem Wege ging. Er steckte in einem Kettenhemd, trug metallene Arm- und Beinschienen und auf seinem Rücken prangte ein gewaltiges Schlachtbeil. Das einzig Entwarnende an seiner Erscheinung war die Tatsache, dass er kaum größer war als ich.
„Ich bin Bargh", gab er freizügig Auskunft und schielte zu mir. „Vielleicht hast du ja Zeit ..."
„Ich bin verabredet", antwortete ich lakonisch.
„Mit wem?"
„Mit dem da." Ich deutete auf Astorius, der am Fuß der Treppe auf mich wartete.
Jetzt teilten sich seine Lippen zu einem ehrlich erfreuten Lächeln. „Tatsächlich?", brach es aus ihm heraus. „Das is' ja ... Ich auch!"
„Was Ihr nicht sagt." Ich hielt sein Gerede für einen plumpen Annäherungsversuch. Doch gleich darauf wurde ich eines Besseren belehrt. Denn als wir die breite Treppe nach unten hinter uns gebracht hatten, begrüßte Astorius beide von uns.
„Barrowsøn, Lukullus ...", begann er und studierte aufmerksam unser Erscheinungsbild. Schließlich nickte er zufrieden. „Ich denke, so könnt Ihr dem Senatsvorsitzenden unter die Augen treten. Antonius Virgil Testaceus erwartet Euch. Nennt den Wachen am Tor seiner Villa Euren und meinen Namen. Sie werden Euch passieren lassen." Er sah die Straße entlang. „Das ist alles, was ich für Euch tun kann. Ob Ihr als Leibwachen taugt, wird der Senatsvorsitzende entscheiden."
„Wie finden wir diese Villa?", fragte Bargh und zwinkerte mir zu.
„Ich kenne den Weg." Mit einem Nicken Richtung Astorius wandte ich mich um und begann die Straße entlangzumarschieren, die die Hauptschlagader Valianors bildete. Ich war leicht irritiert, versuchte mir eine Frage zu beantworten:
War dieser Barrowsøn tatsächlich ein Söldner, oder verbarg sich hinter seiner naiv charmanten Offenherzigkeit ein wohl gehütetes Geheimnis, ein Motiv, das meinem womöglich nicht unähnlich war.
„Wenn wir die Vorstellung beim Senatsvorsitzenden hinter uns gebracht haben, könnten wir einen heben", erklang seine tiefe Stimme neben mir und ich blickte ergeben Richtung Himmel. In diesem Moment wurde mir schmerzlich bewusst, dass der Mann mit den breiten Schultern auf dem besten Weg war, mein erster, wenn auch nur scheinbarer, Mitstreiter zu werden.
Und genauso war es. Einen Tag nachdem ich Thorn Gandir im Gladiator einer ersten Studie unterzogen hatte und noch bevor ich dem Waldläufer in Testaceus' Villa Auge in Auge gegenüberstand, lernte ich den vallandischen Krieger Bargh Barrowsøn kennen. Damit wurde er zum ersten meiner drei Begleiter und zu einem meiner vielen Macher.
Warum ich nie die Freundin eines Priesters sein werde
Aus meinen privaten Aufzeichnungen vom Ceaddag, 2. Trideade im Einhornmond / 349 nGF, neun Jahre nach dem Anfang
„Der Tod wäre sehr erfreut, Euch zu sehen."
Ist das so, Laurin? Wäre der Tod erfreut, mich zu sehen? Will der Tod ... will er Chara? Oder will der Tod einfach nur der Tod sein – dann ist ihm jedermann willkommen, dessen Leben sich ausgelebt hat. Dann ist Chara nur ein weiteres Leben, das den Tod nicht überdauern konnte.
Der Tod wäre sehr erfreut ...
Was denkt Ihr, was ich wäre? Was denkt Ihr, wie erhebend es für mich wäre, den Tod zu sehen? Ich wäre entzückt, könnte ich endlich seine fahlen, kalten Hände greifen und darauf bauen, dass er auch den Mumm und die Kraft hat, mich zu sich rüber zuziehen. Doch der Tod hat mich enttäuscht – einmal zu oft hat er meine Hoffnung zerschlagen und in die Gewissheit verwandelt, dass er dem Leben nicht gewachsen ist. Der Tod ist bei Weitem nicht so unumgänglich, wie wir glauben, nicht annähernd so unbezwingbar, wie er sich gerne dargestellt haben will. Nicht einmal, wenn er mir in Eurem zu Eis erstarrtem Blick begegnet, der wahrlich nicht einen Funken Leben mehr in sich trägt – nicht einmal dann fürchte ich den Tod. Ihr seid vom Scheitel bis zur Sohle zu Eis geworden – leblos sind Eure Gedanken und steifgefroren Euer Sinn für die Wahrheit. Ihr habt viel mit dem Tod gemein, Laurin. Und auch Ihr hattet letztlich nicht den Mumm, meinem Dasein ein Ende zu setzen.
Warum habt Ihr es nicht getan?! Warum habt Ihr mich nicht niedergerissen, aufgeschlitzt, ausgeweidet und ausbluten lassen? Ihr hattet doch allen Grund dazu! Ich bin in Euren Augen vom Chaos zerfressen!!! Wie könnt Ihr ein Chaoswesen in Eurer Mitte dulden?!! Wie könnt Ihr ein solches Risiko eingehen? Was unterscheidet Euch dann noch von jemandem wie mir, jemanden, der mit Chaosanhängern paktiert? Ihr toleriert eine chaosverherrlichende Führerperson, die sich obendrein absoluter Unberührbarkeit erfreut. Wenn Monoch die Meinung vertritt, dass das Chaos vernichtet werden muss, dann stehe auch ich auf der Todesliste Eures Gottes. Und auch Freon Eisfaust müsste meinen Tod wollen, wenn er Monoch gerecht werden will. Ihr ordnungsbesessenen Priester könnt es nicht gestatten, dass das Chaos in den ehrenvollen Reihen der Allianz toleriert oder gar gefördert wird, so wie ich es tue. Bruder hin oder her – am Boden der Realität, wo sich unsere Überzeugungen zu Wort melden und um die Vorherrschaft kämpfen, endet jede Geschwisterliebe. Wenn das Geschwisterpaar vor die Tatsache gestellt wird, ob Chaos oder Ordnung, dann werden sie gezwungenermaßen zu den Waffen greifen. Und dann wird sich weisen, wer mächtiger ist – Euer oder mein Meister.
Doch einen solch gewaltigen Krieg wolltet Ihr nicht riskieren, hab ich recht, Priester? Ein solch gewaltiger Riss im Mantel der Allianz wäre unheilvoller als ein duldbares Übel wie ich eines bin. Ihr habt des lieben Friedens willen das Gebot Eures Gottes gebrochen. Ihr habt das Chaos, obgleich Ihr es beim Namen kanntet, geduldet. Ich frag mich, ob Euch das bewusst ist.
Ich habe es so satt, nach der Wahrheit zu suchen! Es macht mich krank – all die Fragen, die meinen ruhelosen Verstand nicht in die befriedigenden Sphären der Fraglosigkeit entlassen wollen. Es kotzt mich an, keine Antworten zu haben, eigenverantwortlich, gewissenhaft und überlegt zu sein! Ich bin meinem Verstand sozusagen überdrüssig. Ich spüre, wie sich in mir alles aufbäumt, was Verlangen heißt. Wo ist die Ekstase, die Droge, der Zustand absoluter Gleichgültigkeit nach außen und bodenloser Gier nach innen. Ich will, dass sich mein Körper öffnet, dass er aufbricht, wie die zu eng gewordene Haut einer noch jungen Schlange, die danach giert, ihre Kraft bis zur Neige auszukosten, ihr Inneres endlich zu befreien und ihren Leib zu entfalten. Die Giftzähne ... sie hungern danach, ihren todbringenden Saft in einen lebendigen Körper zu jagen. Sie wollen in die neugeborene Haut eines frisch entschlüpften Vögelchens geschlagen werden, bis der kleine Körper wild zuckend erstarrt und die stumpfe Vergänglichkeit das weiche, dynamische Federkleid überwuchert, bis nichts weiter bleibt, als ein staubiger Klumpen kaum befiederten Fleisches.
Ich will töten und getötet werden, bluten und bluten lassen, will den Tod durch meinen Körper jagen, damit ich wieder weiß, was es heißt, zu leben.
Ich will, dass dieser verfluchte Vampir sein kaltes Bett verlässt und mir noch einmal zeigt, was es heißt, Schmerzen zu haben. Ich will, dass er meinen Körper auf die Streckbank schnallt und meine Seele bluten lässt. Ich will ihm die Faust in sein viel zu schönes Gesicht schmettern und sehen, ob er sich zu einem winzigen Zucken seiner Mundwinkel hinreißen lässt. Ich will ihn auf den Grund seiner Gier hinabziehen, wo er nichts anderes ist als eine nach Blut geifernde Bestie, die seit Jahrtausenden nichts mehr gefühlt hat außer die Sucht nach dem Gefühl an und für sich. Ich will den Kampf, den ich schon einmal ausgetragen habe und den ich nur mit ihm austragen kann. Denn er ist der einzige, der dem Tod tatsächlich ebenbürtig ist und nur einen solchen Gegner kann ich gebrauchen.
Einmal noch, Lomond, lass mich einmal noch spüren, dass ich lebe! Lass die Dunkelheit in meinem Inneren ein letztes Mal noch Alles sein. Lass mich noch einmal schwarz, hässlich, grausam, lebensverachtend und widerwärtig, wüst und chaotisch sein, so wie damals. Lass mich deinen Hass spüren, der die Liebe mit sich trägt wie eine ewig welkende Rose, die nicht und nicht absterben will. Lass mich deine Leidenschaft spüren, die an der Unvollkommenheit des halbtoten Lebens zu ersticken droht. Lass mich deinen Wunsch danach fühlen, abzusterben und das süße Gift des Todes schlucken zu dürfen. Lass mich Teil deines Kampfes gegen den Tod sein, Teil deines Willens, am Leben zu bleiben, weil du erkannt hast, dass der Tod nur eine weitere Ausflucht ist.
Lomond, ich will dich in mir spüren, bis deine unmenschliche Kraft mich zerreißt. Zeig mir, was in dir steckt – ohne Vorbehalte, ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Zögern, ohne Zurückhaltung!
Ja, wenn ich wüsste, wo du deinen kalten Körper zur Ruhe gebettet hast, ich würde dein Totenbett in ein Schlachtfeld verwandeln. Ich würde mir holen, was mir schon lange zusteht – eine echte, ehrliche Chance auf den Tod!
Ich würde dir meine Zunge so tief in den Hals stecken, bis du glaubst, daran zu ersticken. Ich würde dir damit dein verdammtes Lächeln aus dem Gesicht saugen, damit du mir nur ein einziges Mal zeigst, wie es wirklich in dir aussieht. Damit du das verfluchte Spiel vergisst, das dich um mich herumtänzeln lässt wie das Hodenmesser einen angehenden Eunuchen übers Parkett. Damit du endlich zum Ausdruck bringst, was verdammt noch mal du von mir willst! Komm und hol dir mein Blut! Hol es dir! Er ist nicht hier! Er kann dich nicht aufhalten!
Scheiße, verfluchte! Ich hab es satt, das Licht zu suchen. Ich will, dass mich die Dunkelheit umfängt, bis mir schwarz vor Augen wird. Ich will aufgeben, mich von den schwarzen Wassern des Zorns und der Gier davontreiben lassen.
Da kann mir Lindawen nicht helfen. Der Lichtjäger kann hier nichts tun. Wenn ich der Dunkelheit in mir jetzt nicht nachgebe, verschluckt sie mich. Wenn ich das Chaos in mir jetzt nicht entfessle, reißt es mich früher oder später nieder.
Und wenn Lomond nicht mit mir kämpfen will, muss ich mir einen anderen Gegner suchen, dem ich nicht gewachsen bin.
Und wenn ich keinen anderen Gegner finde, muss ich jemanden über die Klinge springen lassen, der mir nicht gewachsen ist ...
Es tut mir leid, Lindawen.
Hol mich heim, Lomond.
Die Macher - Telos Malakin
Der Kriegspriester war der Letzte, der sich in die Viererkonstellation fügte, der wir alle angehörten und innerhalb derer jeder von uns seinen Platz einnahm. Natürlich waren wir alle der Überzeugung, exakt dort zu stehen, wo wir entsprechend unseres wohl überlegten Ideals sein sollten, und klarerweise hatten wir völlig unterschiedliche Ideale, was nicht weiter verwundert – bei einem Vollblutkrieger, einem Priester der Ordnung, einem Landstreicher und einer ... ach, vergessen wir das.
Jedenfalls strebten wir in unterschiedliche Richtungen. Jeder von uns hatte einen triftigen Grund, für genau die Seite zu kämpfen, für die wir eben kämpften. Und für Telos Malakin, Oberpriester Agramons, war die Frage, auf welcher Seite er stand, so einfach zu beantworten wie für mich. Während ich der Order meines Auftraggebers folgte, folgte er dem Wort seines Gottes. Ein klares Prinzip – keine weiteren Fragen!
Es mag Ironie sein, dass ausgerechnet mein personifiziertes Gegenstück vom selben Grundtenor bestimmt wurde. Telos Malakin und ich beschritten den Weg des Gehorsams und darin waren wir beispiellos. Wir waren beide beeinflusst. In unser beider Ohren echote der Ruf unserer jeweiligen Götzen, und doch waren wir von völlig konträrer Gesinnung. Vielleicht wurde Telos gerade deshalb zu meinem konsequentesten Begleiter. Wir bildeten eine Art Achse, an deren Enden wir dafür sorgten, dass das Gleichgewicht erhalten blieb. Und wenn die Waage im Lot ist, wen interessiert es dann, was genau die beiden Waagschalen füllt? Mich jedenfalls nicht – nicht zu damaliger Zeit. Telos und ich sorgten dafür, dass das Edle und das Unedle eine Ausgewogenheit darstellten. Gleichzeitig verwehrte uns unsere jeweilige Position die Möglichkeit einer wie auch immer gearteten Berührung. Wir waren, wie die beiden Klingen einer Zweililie, untrennbar verbunden. Die eine Klinge ist ohne die andere ineffektiv, nur halb so tödlich, und doch treffen sie nie zugleich auf ihren Gegner, werden nie Seite an Seite in das Fleisch eindringen, sind nie zugleich an einem Ort. Sie werden sich nie berühren.
Genauso waren Telos und ich. Wir kämpften gemeinsam, aber aus Motivationen heraus, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Erst viele Jahre nach unserer ersten Begegnung, ergab sich über die Achse der Waage, über den Schaft zwischen den Klingen hinweg eine Art Wechselwirkung. Denn sein Gott der Ordnung wurde zusammen mit den Göttern Monoch und Issisa zum Zünglein an der Waage, als ich kurz davor war, unterzugehen. Mit ihrer Hilfe gelang mir der Absprung. Und dabei glaubte ich nicht an einen von ihnen. Genaugenommen glaubte ich an keinen Gott, dem die Völker Amaleas huldigen, ebenso wenig wie ich an die Ordnung glaubte.
Soviel zu dem, was uns verbindet. Wir mögen einander nicht verstehen, einander sogar verachten, und doch stehen wir auf derselben Seite, sobald wir uns einer Gefahr gegenübersehen, die uns auszulöschen droht.
Telos Malakin war und ist ein Priester Agramons, ein Krieger im Kampf gegen das Chaos, ein Mann, der stets eines hehren Ideals wegen kämpft. Er hat mich mein Leben lang zu bekehren versucht. Darin mochte er gescheitert sein, nicht aber scheiterte er in seinem Sinnen darauf, mir die Bedeutung eines aus eigener Überzeugung vertretenen Ideals nahezubringen. Telos Malakin zeigte mir die Macht des Glaubens an und für sich und damit wurde er zu einem meiner Macher.
„Agramon hämmere deine Feinde!"
Danke Telos.
Telos Malakin - Erste Begegnung
Er war so abgrundtief hässlich! Schon deshalb war er mir auf Anhieb sympathisch, auch wenn Sympathie für jemanden wie mich keine Rolle spielte. Als ich hinter Thorn den Besprechungsraum betrat und mein Blick auf die hagere Gestalt des Priesters fiel, fragte ich mich, was einen Agramonanhänger nach Valianor verschlagen hatte. Offensichtlich hatte Testaceus ein ganz besonderes Anliegen an den Fremden, den er uns mit den Worten „Dies ist Telos Malakin, Oberpriester des Agramon aus Chryseia" vorstellte und augenscheinlich hatte er nicht vor, uns mit Details über seine Gründe zu langweilen.
„Mit Priestern hatten wir in letzter Zeit schlechte Erfahrungen", entfuhr es mir.
Telos Malakin lächelte nur. Es war ein freundliches Lächeln, eines, das zumindest auf Thorn einen besonderen Effekt hatte, wie mir nicht verborgen blieb. Sein von der Unbill des Lebens so rüde in Mitleidenschaft gezogenes Gesicht begann sich wahrnehmbar aufzuhellen, und mir wurde schlagartig klar, dass Thorn ein neues Zielobjekt für seine Suche nach einem Mann des Vertrauens gefunden hatte.
Testaceus warf mir vom Tisch aus einen scharfen Blick zu.
„Ich habe Euch nicht nach Eurer Meinung gefragt! Ihr seid nicht eingeladen worden, Chara Viola Lukullus. Ihr seid lediglich als Rosmertas Leibwache hier, also verhaltet Euch entsprechend!"
Ich hob entschuldigend meine Hände, ließ dabei den Priester aber nicht aus den Augen.
„Schon gut", lenkte Malakin ein und bedachte mich erneut mit einem Lächeln, auf das ich mit einem provokanten Grinsen reagierte, was er entweder nicht wahrnahm oder bewusst übersah.
„Ich nehme es jedenfalls niemandem übel, wenn er Fremden gegenüber misstrauisch ist. Ihr habt eine gesunde Einstellung, Chara. Selbst Agramon würde blindes Vertrauen als Schwäche betrachten."
„Sehr weise, Euer Gott", antwortete ich, obwohl es mir scheißegal war, was Agramon wofür auch immer hielt. Dann wandte ich mich Testaceus zu. „Verzeiht mir mein loses Mundwerk, Senatsvorsitzender. Es ist mir nicht gegeben, meine Worte mit Bedacht zu wählen. Das ist eher Rosmertas Talent."
Testaceus nickte müde, während mich Rosmerta mit einem giftigen Blick strafte.
„Warum Telos hier ist, erkläre ich Euch später", sagte Testaceus und überflog die Schriftrolle, die vor ihm auf dem Tisch lag. Ich spähte erneut zu dem Priester, der als einziger stehen geblieben war. Er zeigte keine Regung. Mit vor den Lenden gefalteten Händen verharrte er neben dem Stuhl des Senatsvorsitzenden und sah aus wie eine stümperhaft in den Stein geschlagene Skulptur. Sein vernarbtes Gesicht wirkte durch eine wahrnehmbare Asymmetrie der beiden Backenknochen entstellt. Seine Wangen waren ausgezehrt, und die Augen saßen in dunklen tiefen Höhlen. Sein Blick wirkte indes rege. Und trotz seiner offensichtlich abnormen Gesichtszüge strahlte der Priester etwas aus, das Respekt einflößte. Sein schmaler Körper war kräftig, auch wenn er unter der weißen Toga kaum auszumachen war und sein entschlossener Ausdruck ließ auf klare Richtlinien hinter seinen Handlungen schließen.
Testaceus wandte sich an Thorn und Rosmerta und schob ihnen die Schriftrolle zu, die Rosmerta sofort an sich riss.
Offensichtlich konnte sie mit dem Inhalt nichts anfangen, denn sie reichte das Pergament mit einem fragenden Blick an Thorn weiter.
„Eigentlich hatte ich nicht vor, Euch schon jetzt über gewisse Dinge in Kenntnis zu setzen, aber es lässt sich nicht länger hinauszögern", bemerkte Testaceus und ignorierte Rosmertas fragenden Blick.
Thorn schien aufzuhorchen. Ich konnte seine Anspannung förmlich spüren, die knisternd ihren Weg zu mir fand. Irgendetwas brachte den Waldläufer in Aufruhr und es juckte mich heftig, ihm auf den Zahn zu fühlen.
Nachdem Testaceus deutlich gemacht hatte, dass die Botschaft in Aschranisch verfasst war, was Rosmertas Verwirrtheit erklärte, fuhr er fort:
„Es handelt sich hier weniger um eine Botschaft als um eine Drohung. Eine Drohung, die dezidiert meiner Person gilt. Eine Drohung, die von einem, nun, wie soll ich sagen ...? Einem Widersacher des Valianischen Imperiums stammt."
„Wem!", platzte Thorn heraus.
„Sein Name würde dir nicht das Geringste sagen, Thorn", antwortete Testaceus, gab sich schließlich aber geschlagen. „Andererseits habe ich erwartet, dass du es ganz genau wissen willst."
„So ist es", antwortete Thorn mit schleichend drohendem Unterton.
Ich spürte, wie meine Neugier in unerwartete Dimensionen schnellte, obgleich ich keine Ahnung hatte, worum es hier eigentlich ging.
„Seinen Namen!", verlangte Thorn harsch und meine Augenbraue wanderte unwillkürlich nach oben. Es war augenscheinlich, dass der Waldläufer kurz davor war, sich im Ton zu vergreifen.
„Al'Jebal. Aber der Name wird dir nicht weiterhelfen."
Während sich in Thorns Kopf ein regelrechter Gedankenkrieg abzuspielen schien, kämpfte ich um eine unbeteiligte Miene, obgleich ich das drängende Bedürfnis hatte, auf der Stelle den Raum zu verlassen. Hatte ich gerade richtig gehört? Al'Jebal? Das konnte unmöglich ein Zufall sein!
Leider gab es kein Mittel, das es mir erlaubte, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Was sich in Thorns oder Testaceus' Kopf abspielte, blieb mir verborgen. Und während Thorn in andere Dimensionen abglitt, spähte ich zu Telos Malakin zurück, in der Hoffnung, dass mir sein Gesichtsausdruck Aufschluss gab. Fehlanzeige. Er stand noch immer neben dem Stuhl des Senatsvorsitzenden und schien es für angebracht zu halten, möglichst unsichtbar zu bleiben.
„Wie auch immer!", fuhr Testaceus schließlich fort. „Dieser Mann, der im Süden Aschrans mit seinen Heerscharen von Orks und seinen verruchten Assassinen für Angst und Schrecken sorgt, trachtet mir nach dem Leben. Das meines Neffen und des Oberkommandanten meiner Leibgarde geht bereits auf seine Rechnung."
„Wer übernimmt eigentlich dessen Posten?", unterbrach ihn Rosmerta neugierig und ich spürte, wie ich schläfrig wurde. Die Unterhaltung hatte ad hoc ihren Reiz verloren.
„Lexorius", antwortete Testaceus, wobei er genervt mit den Fingern auf die Tischplatte trommelte und jeden Einzelnen am Tisch, mich eingeschlossen, herausfordernd musterte.
„Sonst noch Fragen?"
„Nerus Boratus Lexorius?", meldete sich erneut Thorn zu Wort. Der Rest dessen, was er sagte, verlor sich im Dunst meiner Gedanken, die sich heimlich nach Aschran stahlen. Al'Jebal ... Der Name biss sich in meine Gehirnwindungen wie eine Zecke ins Fleisch.
„Von Herkul Polonius Schroeder, ja. Im Übrigen gehören er und seine Flotte zu Al'Jebals Leuten", erkämpfte sich Testaceus erneut meine Aufmerksamkeit. Meine Schläfrigkeit verschwand so schnell, wie sie gekommen war. „Seine Schiffe kreuzen in diesem Augenblick unter dem Kommando Schroeders und dessen Flaggschiff, der ..."
„Seeteufel", murmelte Thorn gedankenschwer.
„Richtig", bestätigte Testaceus ungeduldig. „Seine Flotte kreuzt immer noch in den Gewässern vor Valianor, ein Problem mehr, dessen ich mich annehmen muss."
„Wie kommt ein Seezenturio eigentlich dazu, Oberkommandant deiner Leibwache zu werden?"
Rosmerta hatte offensichtlich ein Interesse daran, sich Lexorius' Posten selbst unter den Nagel zu reißen und Testaceus verlor sich in einer langatmigen Ausführung über den ehemaligen Seezenturio. Während sich Rosmerta und der Senatsvorsitzende in ihrem kleinen Wortwechsel unbedeutenden Inhalts verloren, verlor ich mich in einem Blickwechsel mit dem Priester, der diesem Thema offensichtlich ebenso wenig abgewinnen konnte, wie ich. Ich stellte allerdings rasch fest, dass Malakin in Gedanken wo anders war und mehr oder weniger durch mich hindurchsah. Eigentlich hatte ich für Priester nichts übrig. Dieser hier erweckte dennoch mein Interesse. Telos Malakin schien ein Mann des Kalküls zu sein, auch wenn seine priesterliche Erscheinung dies zu verbergen suchte. Infolgedessen war er der einzige in diesem Raum, der mir auf lange Sicht gefährlich werden konnte.
„Schiffe der Güldenmaidklasse sind die schnellsten und gefährlichsten Schiffe diesseits der Meere", bemerkte Testaceus gerade gereizt. „Sie können nur mit den Kampfseglern der anbarischen Flotte verglichen werden. Die Seeteufel ist das schnellste, größte und sicherste Schiff innerhalb der Flotte des Alten."
Er warf Thorn einen kritischen Blick zu. Thorn aber schien gerade eine Eingebung zu haben. Er saß völlig versunken auf seinem Platz und stierte auf die Tischplatte. Erst nach einer ganzen Weile schweigenden Grübelns murmelte er gedankenschwer:
„Er wird auch der Alte vom Berg genannt, richtig?"
„Ganz recht", antwortete Testaceus.
„Was ist eigentlich an den Gerüchten über ihn dran? Ist er wirklich ein Schwarzmagier?"
Testaceus schüttelte den Kopf.
„Was er ist, spielt keine Rolle. Dass er mir droht hingegen schon."
Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich erzähle Euch deshalb von Al'Jebal, weil ich denke, dass er zu einer akuten Gefahr werden könnte und Ihr möglicherweise mit dieser Gefahr in Berührung kommt."
Jetzt war ich hellwach. Also doch! Der Alte höchstselbst bedrohte Testaceus und seine eitlen Pläne. Al'Jebal ... Der Name war mir so vertraut wie der meines Mentors, und das, obwohl ich dem Mann noch nie begegnet war. Und nun schwebte dieser Name im Raum und sorgte bei Thorn sichtbar für Aufregung. Was lief hier eigentlich?
Testaceus zeigte auf den Priester, der geduldig an seiner Seite gewartet hatte.
Malakin rückte die Toga auf seiner rechten Schulter zurecht, wobei mir auffiel, dass auf dem breiten Gürtel um seine Hüften das Symbol gekreuzter Kriegshämmer angebracht war.
„Telos Malakin", fuhr Testaceus fort, „ist nicht nur Oberpriester, sondern auch ein Experte für alte Glaubenskulte und ein Spezialist, was das Zepter anbelangt. Er wurde von seinem Orden in Chryseia geschickt, um die Echtheit des Zepters zu überprüfen und die Fakten rund um die Ianna-Priesterinnen und die Insignie ans Licht zu bringen."
Telos lächelte erneut.
„Gut", begann er freundlich. „Es wäre schön, wenn mich jemand zum Vermus-Tempel bringen könnte, ich möchte nämlich so bald wie möglich mit meinen Studien beginnen."
Thorn wollte sich gerade anbieten, als ihm Testaceus dazwischenkam.
„Noch etwas. Ihr solltet Euch in Zukunft vorsichtiger durch Valianor bewegen als üblich. Es könnte nicht schaden, einen Leibwächter mitzunehmen, wenn Ihr irgendwelchen Erledigungen nachgeht." Der Rat war ausschließlich an Thorn, Rosmerta und Telos gerichtet.
Bargh räusperte sich geräuschvoll, während ich meinen Finger hob.
„Habe ich die Erlaubnis zu sprechen?", fragte ich.
„Ja, Chara, das habt Ihr, aber hütet Eure spitze Zunge!"
Ich schielte zu dem Vallander, dessen Gegenwart mir mittlerweile recht angenehm geworden war.
„Ich weiß ja nicht, wie Bargh das sieht, aber ich hab nicht ewig vor, Leibwächterin zu spielen. Wenn Ihr keine Einwände habt, würde ich gerne meinen Posten aufgeben."
„Was hältst du davon?", fragte Testaceus Rosmerta. „Es sind schließlich deine Leibwächter!"
Rosmerta zuckte mit den Schultern.
„Ehrlich gesagt, ist es mir völlig gleichgültig, was sie macht", sagte sie mit einem Nicken in meine Richtung. „Sie hat sich ohnehin nicht bewährt."
Womit sie Recht hatte.
„Das bedeutet allerdings", wandte sich Testaceus an mich, „dass Ihr Euren Sold verliert."
Das war das geringste Übel. Der Sold im Dienste Testaceus' war alles andere als verlockend, und ich musste eine Entscheidung treffen.
„Wie steht's mit dir?", fragte ich Bargh.
„Gleichfalls", sagte Bargh.
„Was gleichfalls?", blaffte ihn Rosmerta wie aus heiterem Himmel an. „Was soll das heißen? Drück dich gefälligst so aus, dass man dich auch verstehen kann!"
„Was ist denn mit dir los?", fragte Thorn verblüfft, während Bargh knallrot anlief.
Rosmerta antwortete nicht, sondern erhob sich ruckartig aus ihrem Stuhl.
„Wenn du es erlaubst, ziehe ich mich zurück!", sagte sie an Testaceus gewandt.
Testaceus nickte und wirkte dabei leicht überfordert.
„Soweit ist alles geklärt. Du kannst gehen."
Hinter Rosmerta fiel knallend die Tür ins Schloss und Bargh stierte auf die schweren Holzflügel.
„Schön, dann werde ich mich auf den Weg zum Tempel machen", vermeldete der Priester nach einer Weile unangenehmen Schweigens. „Es wird Zeit für das Abendgebet."
„Ich komme mit!", murmelte Thorn und erhob sich. „Es war wie immer nett, mir dir zu plaudern, Antonius. Ich wünsche dir eine gute Nacht!"
„Das wünsch ich dir auch!", erwiderte Testaceus. „Und, Malakin! Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr mich auf dem Laufenden halten würdet."
Malakin drehte sich noch einmal um.
„Ich werde Euch keine Information vorenthalten, Senatsvorsitzender."
Dann folgte mir der Priester aus dem Besprechungsraum. Zeitgleich begann in meinem Kopf ein kleiner Wettlauf der Gedanken, wobei eine Frage die andere jagte. Der Priester sollte also die Echtheit des Zepters überprüfen. Wofür wollte Testaceus es nutzen? Was war an dem Ding dran, dass jeder hinter ihm her war und der Senatsvorsitzende extra einen Spezialisten aus Chryseia hierher zitierte?
Ich fixierte Thorns Hinterkopf mit meinen Blicken. Der Waldläufer wusste eindeutig mehr über die Insignie, er unterließ es nur tunlichst, darüber zu sprechen. Außerdem wusste er irgendetwas über den Mann, der auch der Alte vom Berg geheißen wurde und dessen Name bis in die entlegensten Winkel Amaleas für wilde Gerüchte sorgte. Thorn wusste Dinge, die auch ich wissen musste.
Und damit war klar, wer die eigentliche Person meines Interesses war – Thorn Gandir. Ich musste an ihm dranbleiben. Und der Priester würde mir dabei eine Hilfe sein.
Die Macher - Al´Jebal
Es ist gefährlich, ihn zu kennen. Es ist gefährlich, ihn zu erwähnen. Es ist tödlich, ihm zu widersprechen.
Aber die schlimmste Gefahr liegt darin, ihn zu begehren, oder auch nur einen Blick auf den Mann hinter der Fassade des Meisters zu werfen – zumindest für jemanden wie mich. Und eben das ist es, was ich mir zuschulden habe kommen lassen. Ich wollte mehr sein als nur dienend, mehr sein als nur das Werkzeug, das er für seine Zwecke zum Einsatz bringt. Ich wollte mehr als der Hebel sein, mit dem er eine verriegelte Tür aus ihren Angeln bricht. Lange war ich nur dies und lange war ich damit zufrieden ... Befolge deine Befehle! Mit diesem Grundsatz konnte ich gut leben und gut sterben.
Aber irgendwann war es nicht mehr genug, einfach nur seine Befehle zu befolgen. Denn seine Befehle nahmen mir meine letzte Ausflucht, den Tod. Darum, und weil ein Vampir dachte, er müsse meine Seele zum Leben erwecken, änderte sich alles.
Es ist verboten, ihn zu hinterfragen oder einen Blick hinter seine Machenschaften zu werfen. Und trotzdem muss ich es tun. Auch wenn ich die Konsequenzen fürchte – nicht, weil ich ein Gesetz breche! Gesetze breche ich ständig. Nein, ich fürchte ihn. Ich fürchte seine Nähe ebenso wie seine Absenz. Und das hat nicht das Geringste damit zu tun, was er für die Welt verkörpert. Es hat ausschließlich damit zu tun, was er für mich verkörpert.
Als ich ihm das erste Mal begegnete, war mir natürlich klar, wen ich vor mir hatte. Wie hätte ich es nicht wissen können? Die ganze Welt kennt ihn. Aber was weiß die Welt schon? Nicht viel, soweit ich weiß.
Und ich? Ich kam und komme aus den dunkelsten Winkeln Amaleas, und daher war ich mir zumindest darüber im Klaren, was es mit dem Alten vom Berg auf sich hatte. Es gab da ja immerhin eine Verbindung zwischen mir und ihm oder, besser gesagt, zwischen ihm und meinem Auftraggeber. Darum wusste ich: Er ist der Mann, auf den Leute wie ich hören. Er ist der Mann, der weiß, wie die Dinge laufen. Das ist er in meinen Augen und in den Augen jener, die sind wie ich. In den Augen der Welt war (und ist er zum Teil immer noch) das fleischgewordene Chaos – ein Schwarzmagier, ein Überbleibsel aus den Chaoszeiten, das das Leben in Amalea bedroht und das vernichtet werden muss. Damit könnte die Mehrheit sogar richtig liegen. Fakt ist: Ich kann es nicht sagen – noch nicht. Alles, was ich weiß, ist, dass er kein Schwarzmagier ist. Er ist überhaupt kein Magier.
Al´Jebal - Erste Begegnung
Der steinerne Stuhl im Schatten des Gebäudes schob sich in mein Blickfeld, als wäre er das Einzige, das mir diese unsägliche Hitze erträglicher machen könnte. Mir stand der Schweiß auf der Stirn. Meine Handinnenflächen waren so schmierig, als hätte ich sie in einen Bottich Kamelfett gesteckt. Noch immer schmerzten mir die Augen von dem grellen Licht der Sonne. Noch immer sehnten sie sich nach der Dunkelheit und Kälte jener Zelle, in der ich die letzten paar Tage über hockte. Sie sehnten sich nach dem stinkenden Loch des Festungskerkers, obwohl mein Körper mit jeder Faser gegen die Feuchtigkeit, den abscheulichen Geruch und die Kälte rebelliert und danach geschrien hatte, freigelassen zu werden. Mein Körper wohlgemerkt, meine Seele (sofern ich eine habe) kommt bestens damit klar, eingekerkert zu sein.
Der steinerne Stuhl im Schatten des Gebäudes machte mich blind für alles, was sonst noch von Interesse sein hätte können, unter anderem die Gestalt mit den gelben Augen. Der Schwarzgewandete zur Linken des Stuhls war mir im besten Fall interessant und im schlimmsten Fall eine Irritation dessen, was ich über die Wesen dieser Welt zu wissen glaubte. Sicher, ich hatte nie zuvor einen Menschen mit gelben Augen gesehen. Doch er war nichts im Vergleich mit der Erscheinung jenes Mannes, der auf dem steinernen Stuhl saß.
Ich wusste, wer er war. Ich kannte seinen Namen. Ich hatte längst geahnt, dass uns der Weg, den wir gegangen waren, am Ende zu ihm führen würde. Und jetzt waren wir hier. Und während sich die anderen in der schlimmsten Situation ihres Lebens wähnten, wähnte ich mich in der vielversprechendsten. Warum, war mir im Augenblick noch nicht klar. Aber die Erkenntnis, das spürte ich, würde nicht lange auf sich warten lassen.
Als der Blick aus den umschatteten Augen auf mich fiel, erstarrte ich vom Scheitel bis zur Sohle zur Salzsäule. Ich spürte ein leises Zerren in meiner Brust, spürte, dass irgendetwas nicht stimmte, dass sich etwas in mir regte, das eigentlich tot sein müsste ...
„Ja oder nein!"
Die Stimme schnitt sich durch meinen Verstand wie eine geschliffene Klinge durch Seide. Sie war tief, samtig, einzigartig. Seine Aufforderung galt nicht mir, und trotzdem ... Ich realisierte, wie sich etwas in mir zu regen begann und stellte fest, dass ich anders reagierte als meine drei Begleiter. In ihren Augen – nackte Angst. In meinen – möglicherweise Erschütterung. Natürlich hatte ich keine Ahnung. Ich konnte mich ja selbst nicht sehen. Alles, was ich wusste, war, dass der Mann auf dem steinernen Stuhl aus irgendeinem Grund Zugriff auf mich hatte, dass ich ihm ausgeliefert war, wie ich noch nie zuvor jemandem ausgeliefert war. Und ich hatte nicht den leisesten Schimmer, was es war, das sich da in mir regte. Ich spürte dieses seltsame Leben – leise pochend, tief unter meiner Haut, in jenem längst abgestorbenen Zentrum, das die anderen Herz nennen und das für mich nichts weiter ist als ein Organ, das es mir ermöglicht, am Leben zu bleiben und meine Pflicht zu tun.
Es war tot. Es funktionierte, aber es war tot. Jetzt plötzlich schien es zum Leben erwacht. Wild pumpte es das Blut durch meine Venen und schlug so laut, als wollte es meinen Brustkorb sprengen.
Irgendetwas in mir zerbrach in jenem Augenblick, als ich vor den steinernen Stuhl getreten war.
Ja oder nein!
Für mich war die Antwort so klar, wie das geweihte Wasser in den verfluchten Tempeln meiner Heimat. Für mich. Für meine drei Mitstreiter war die Sache wesentlich problematischer – das war mir nur allzu bewusst. Am schlimmsten aber erging es dem Waldläufer, der sich bereits der Verdammnis entgegentaumeln sah. Er wand sich. Ich konnte förmlich spüren, wie sein Verstand zu schlingern und seine Seele zu krampfen begann. Natürlich, wie könnte sich jemand wie er einem Chaosanhänger verpflichten? Wie könnte ein Ordnungsfanatiker wie er einem Mann dienen, von dem behauptet wurde, er wäre die Inkarnation des Bösen.
Es gibt kein Gut und Böse in dieser vertrackten Welt, Waldläufer! Es gibt keinen Schuldigen! So sieht es nun mal aus. Finde dich damit ab!
Aber Thorn hätte es gerne einfach. Er hätte gerne, dass der Mann auf dem steinernen Stuhl ein Dämon aus den tiefsten Tiefen der Unterwelt war und er selbst der Held, der ihm die Stirn bietet. Damit er sich gegen ihn und für sich entscheiden kann, was er ohnehin tun würde. Aber nicht, weil er sich für das Gute in der Welt entschied, sondern für das Glück, das er so sehr begehrte, dass er darüber hinaus zu denken vergaß. Denn Thorns Leben stand wie meines und das der anderen hier und jetzt auf Messers Schneide. Und er wollte leben. Das war so offensichtlich, dass mir die Tatsache in den Augen schmerzte und so bemitleidenswert, dass mir schlecht davon wurde. Aber Thorns Kampf war im Augenblick so unbedeutend wie alles andere, das sich um den steinernen Stuhl herum abspielte. Alles, was zählte, war der Mann in der tiefroten Magierrobe, dessen stählerner Blick auf dem Letzten von uns haftete, der sich noch nicht entschieden hatte.
„Ja oder nein. Entscheidet Euch!"
Wieder fuhr mir seine Stimme durch Mark und Bein und wieder spürte ich die Erschütterung tief unter meiner Haut.
Erneut verstrichen zähe Augenblicke sinnleeren Schweigens und lähmender Stille, denn der Waldläufer rang noch immer mit sich und seinen Prinzipien. Bei den Dämonen! Was überlegte er noch? Wozu noch hadern?
Und dann öffnete er endlich seine Lippen, um seine Schwachheit zu besiegeln. Und exakt in diesem Augenblick begriff ich, dass ich gerade erst damit begonnen hatte, ich zu sein. Alles, was ich bisher war, spielte keine Rolle mehr – nicht, wenn ich die Gestalt auf dem steinernen Stuhl betrachtete, deren Ruf ich fortan folgen würde. Wenn ich in dieses detailliert gezeichnete Gesicht sah, wenn ich diesen zeitlosen Blick auf mir spürte, oder eine winzige Regung in seinem Gesicht wahrnahm, sobald er seinen Mund öffnete, um ein Wort in diese verkappte Welt zu entlassen, dann weiß ich, dass ich bis dahin nicht existiert habe. Bis heute war ich nur ein stümperhaftes Werkzeug ohne Antrieb und Motivation gewesen. Jetzt wollte ich funktionieren. Ich wollte nicht mehr bloß einen Zweck erfüllen, ich wollte meinen Zweck gut erfüllen. Jetzt wollte ich perfekt sein in allem, was ich tat, weil derjenige perfekt war, für den ich es tat.
„Ja!" Die Antwort des Waldläufers.
Sie war vorhersehbar. Es war überhaupt alles vorhersehbar, was innerhalb der steinernen Mauern im Innenhof dieser Festung bis jetzt vonstattengegangen war. Doch ich fühlte mich so unsicher wie ein Kind, das zum ersten Mal seine Beine benutzte. Denn ich war nicht länger, was ich mir irgendwann einmal in den Kopf gesetzt hatte. Und noch während mir der Schwarzgewandete mit den gelben Augen signalisierte, dass ich ihm folgen soll, fiel es mir wie Schuppen von den Augen:
Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich etwas. Ich wollte es wegen dieses einen Gefühls, das in mir zum Leben erwacht war, auch wenn ich dieses Gefühl weder kannte noch verstand. Ich wollte gut sein. Ich wollte überzeugen, wollte funktionieren, wollte ... gefallen?
Sicher ist, dass ich etwas wollte. Und etwas zu wollen bedeutet immer (ausnahmslos) an etwas gebunden zu sein.
Und was mich bindet, kann mich auch zerstören.
Was mich bindet, könnte mich zerstören.
Was mich bindet, wird mich am Ende zerstören.
Theater
Aus meinen privaten Aufzeichnungen vom Aonadag, 1. Trideade im Rabenmond / 352 nGF
Der Schatten, den deine gewaltige Intrige wirft, wird länger und länger, Al'Jebal. Die Lüge versteht es, eine steile Karriere hinzulegen, bevor die Wahrheit sie in den Boden stampft. Die Verblendung vermag strahlend hell zu leuchten, bevor ihr Irrlicht vom Licht der Wahrheit verschluckt wird. Die Maske vermag beim Ball zu imponieren, doch wenn der Ball vorüber ist, bleibt die Enthüllung nicht erspart. Irgendwann hebt sich der Vorhang, und wenn es soweit ist, wird die ganze Welt Richtung Tamang blicken. Denn wenn der Vorhang hochgeht, ist die Spannung auf ihrem Höhepunkt. Wenn die Hüllen fallengelassen werden, sind die Augen der Zuseher am gierigsten und das Publikum ist wie eine nach Blut geifernde Meute. Du wirst erst dann im Rampenlicht stehen, wenn deine Intrige auffliegt. Bevor es soweit ist, bist du nur der Meister. Danach bist du der, der die Welt in seinen Händen hält. Hast du das bedacht, Al'Jebal? Hast du daran gedacht, dass sich früher oder später der Vorhang heben wird, dass deine Illusion dann in aller Munde sein wird und die Kunst, die du an dem Stück Welt vollbracht hast, von allen bestaunt oder verachtet werden wird, je nachdem ob wundervoll oder entsetzlich? Und ist dir klar, dass ich, wenn es soweit ist, mit auf der Bühne stehen werde, dass ich mit dir stehe und falle? Hast du daran gedacht, dass auch ich über dein Schaustück urteilen werde und dass ich, wenn mein Urteil negativ ausfällt, den Saal verlasse?
Oh nein, Al'Jebal. Ich werde es wissen, bevor es zu spät ist. Ich werde die Bühne rechtzeitig verlassen, wenn mir das Resultat deiner Inszenierung nicht gefällt. Vor dem letzten Akt.
Ich habe keine Angst um meine Welt. Aber ich habe etwas dagegen, dass die Illusion, die ich tagtäglich aufrechterhalte (deinetwegen), dass ich diese Täuschung vor jenen rechtfertigen muss, die mir heute folgen. Und wenn ich keinen guten, keinen wirklich triftigen Grund habe, sie zu täuschen, habe ich ihr Vertrauen missbraucht. Die Dad-Siki-Na, die Piraten, die Gelehrten, ja sogar die Priester, sie sind mir nicht mehr egal.
Die Welt wie sie ist, die kann meinetwegen untergehen. Die ist ohnehin im Arsch. Aber es gibt da ein paar, die weiter existieren müssen. Lindawen zum Beispiel, ob nun Verräter oder Freund – er wird leben, weil er liebt. Und wenn er nie geliebt hat, wird er trotzdem leben, weil ich ihm sein Leben schulde. Kerrim und die Assassinen – meine Güte, die stehen und fallen wie ich mit dir. Vor ihnen werde ich mich nicht rechtfertigen müssen.
Also, wenn dein Ziel in meinen Augen falsch ist, dann werde ich deine Welt verlassen. Aber dies ist nur die eine Wahrheit. Dies ist nur die Wahrheit meiner Rolle in deinem Stück oder meines Platzes in dieser Welt. Die zweite, die private Wahrheit sieht anders aus. Dass ich deine Welt verlasse, bedeutet nicht, dass ich dich verlasse. Denn über allem steht das Gefühl, das ich in mir trage, seit ich dir das erste Mal begegnet bin. Über allem steht das Gefühl, um dessentwegen ich kämpfen werde, sobald ich frei bin, das zu tun, was immer ich für richtig halte.
Die Sterne sind zu weit weg, um auch nur einen von ihnen greifen zu können. Der Mond leuchtet zu schwach, um seine wahre Form zu erkennen und die Sonne ist zu grell, um in ihr Licht zu sehen. Doch jetzt ist es Nacht. Und in der Nacht ist der Kopf kühl, die Seele still und der Gedanke mächtiger als jedes Gefühl. In der Nacht erkenne ich klar und deutlich, was mich am Morgen erwarten wird. Aber wenn der Morgen anbricht, bin ich so blind wie jeder andere, der denkt, er könne in die Sonne blicken.
So wie wir waren
Der Weg des Helden ist ein Weg des Scheiterns. Wir neigen dazu, den Helden als die Verabsolutierung unserer Ideale zu begreifen, als die Verwirklichung des durch und durch Hehren und Erstrebenswerten. Doch der Held beginnt seine Reise als Mensch der Schwäche, wie jeder andere auch. Der Unterschied zu einem gewöhnlichen Sterblichen liegt nicht in seiner Vorbestimmung oder seinen hehren Idealen, sondern in seiner Bereitschaft, die eigenen Schwächen zu erkennen und aus der Schwäche heraus zu erstarken. Der Held lernt aus seinem Scheitern, weil er seine Schwäche erkennt und als Teil von sich anerkennt. Der Held versteht, dass er nicht aus seinen Siegen erwächst, sondern aus seinen Niederlagen und akzeptiert, dass er scheitern muss, um wachsen zu können. Das, was den Helden vom Nicht-Helden unterscheidet ist, dass er die Bereitschaft in sich trägt, niemals aufzugeben. Dabei muss er noch nicht einmal wissen, wofür er kämpft. Er ist auch nicht stärker, besser oder weiser als der Rest. Er besitzt nur den Willen, voranzuschreiten, die Neigung, niemals aufzugeben, die Entschlossenheit, auch dann noch zu kämpfen, wenn alle anderen zaudernd und zweifelnd ihre Waffen strecken. Dies lässt den Helden an die Spitze der Masse treten, die ihm schlussendlich folgen wird. Und sie wird ihm deshalb folgen, weil er zu wissen scheint, was er tut und wofür er kämpft. Die Herde folgt dem, der keine Zweifel aufkommen lässt. Sie folgt dem, der, im Gegensatz zu allen anderen weiß (nicht glaubt), was zu tun ist oder wofür es zu kämpfen lohnt, auch wenn dies nur eine wohl gestaltete Illusion ist. Woraus aber erwächst die Entschlossenheit, die von der Masse als Gewissheit missinterpretiert wird? Sie erwächst aus Furchtlosigkeit. Furchtlosigkeit wiederum resultiert in übereiltem Handeln. Übereilte Handlungen sind selten überlegt, aber stets schnell getan. Das Schnelle reißt das Langsame mit sich. Die Masse folgt dem, der schneller ist als der Rest, weil er den Anschein erweckt, er wüsste es besser. Schnelles wiederum zieht häufig ein Scheitern nach sich. Das Scheitern motiviert zur Neuerung, mit anderen Worten zur Entwicklung, die den Menschen der Schwäche schließlich zu einem Menschen der Stärke werden lässt. Der Held ist bereit, aus allem Lehren zu ziehen. Die Lehre macht ihn weiser. Doch bei aller Gelehrigkeit des Helden ist seine Entschlossenheit das entscheidendste Charakteristikum. Und diese geht mit Furchtlosigkeit Hand in Hand. Darum gilt der Mut als das hervorstechendste Merkmal des Helden.
Am Anfang ist alles leicht. Am Anfang sind wir frei von Angst. Am Anfang steht das „Ich will", bevor das „Ich bin" unsere Schwäche ausweist und unser Wille allmählich verstummt, weil er verstanden hat, dass er auf das „Ich bin" angewiesen ist. Und das, was wir sind, ist im seltensten Falle das, was wir von uns erwartet haben. Selbstbetrug – dem Menschen so eigen wie keinem Wesen sonst.
Wenn wir am Anfang einer Sache stehen, sind wir frei von Sorgen und Ängsten. So verhielt es sich auch mit uns, die wir die Bühne für jene bereiteten, die das Zünglein an der Waage bilden. Wir standen am Beginn unserer Reise und waren voller Zuversicht. Es gab keine Zweifel, keine Ängste, keine Fragen.
Was kommt danach? Wen interessiert's?
Am Anfang einer Mission sind wir überzeugt von den ausgefeilten Plänen in unseren Taschen, den Ideen in unseren Köpfen und den Waffen in unseren Händen, die wir wie niemand sonst zu meistern gelernt haben, kurz, wir sind überzeugt von uns.
Vielleicht trifft das nicht auf jeden zu. Thorn Gandir war in der Tat voller Zweifel, und trotzdem, er hatte ein Ziel und war entschlossen, dieses Ziel zu erreichen. Warum? Weil er keine Ahnung hatte, was genau ihn erwartete und worin genau seine Schwächen bestanden.
Telos wiederum wusste, dass Agramon ihn führen würde und damit war seiner priesterlichen Wahrheitssuche genüge getan. Doch auch er begriff schlussendlich, dass sein Gott nicht alles war. Telos Malakin beging einen klassischen Fehler. Er vertraute so sehr auf die Weisung der Götter, dass er darüberhinaus vergaß, dass nicht sie es sind, die die Waffe in der Hand halten, sondern die, die ihnen folgen. Was Telos in Agramons Namen tat, fiel am Ende auf ihn zurück. Die Hand, die die Waffe führt, ist jene, die abgeschlagen wird, sofern sie ihr Ziel verfehlt. Das Ideal dahinter interessiert kein Schwein. Dies aber war Telos zu Beginn unseres Weges nicht bewusst. Er handelte im Namen Agramons, doch am Ende trug die Verantwortung für seine Taten er, nicht sein Gott.
Bargh. Er hatte wahrlich die besten Karten, als er an unserer Seite die Startlinie überschritt. Zu jener Zeit bestand seine einzige Sorge darin, bereit zu sein für den Tag, da er in seine Heimat zurückkehren sollte. Den Mächten sei Dank hatte er keine Ahnung, dass sich die Erde Vallands rot gefärbt hatte, als wir endlich Fuß darauf setzten und dass seine geplante Rache, gelinde gesagt, ein unerwartetes Vorspiel hatte.
Und ich? Tja, ich stand in Thorns Schatten – beobachtend, wartend. Meine Zeit war noch lange nicht gekommen und um genau zu sein, hatte ich damals keine Ahnung, dass es je eine Zeit geben würde, die meine sein sollte. Hätte ich es gewusst, ich wäre diesen Weg nie gegangen. Ich war wie ein Kind, das man in die Welt entlassen hatte, um sich selbst zu finden. Dabei war ich der Überzeugung, mich längst gefunden zu haben ... wie das Kinder eben so sehen.
Das Valianische Imperium war die erste Station auf meinem Weg ins Ungewisse. Damals war noch alles klar, alles leicht, alles ... ja einfach kein Problem für mich. Ich hatte nur ein Prinzip, nur ein klares Ziel und einen einfachen Plan – ein wunderbar simples Konzept. Zumindest solange man nicht weiter sieht als bis zur Klingenspitze der eigenen Waffe. Aschran holte mich schließlich heim. Erst in der Wüste begann mir allmählich zu dämmern, dass mein vermeintliches Ziel erst der Anfang war.
Wenn es nun sein soll, dann lasst es sein wie es ist. Jeder ist dort, wo er sein muss.
Seine Worte. Damals so wahr wie heute. Wir sind hier. Wir tun, was wir tun müssen, genau dort, wo wir sein sollen. Wir haben alle unseren Platz eingenommen und wachsen über uns selbst hinaus. Wir stehen alle vor der Fahne stramm, die das schlichte, ergreifende Symbol des Todes ziert. Wir haben uns alle der Willkür dieser Welt ausgesetzt, haben alle verstanden, dass dieser Weg womöglich ... wahrscheinlich ... sicher unser letzter sein wird. Wir werden alle den faulen Atem des Todes riechen, das Leben als begrenzt und sinnlos begreifen. Wir werden alle verstehen, dass unsere Träume leer, unsere Interessen unbedeutend, unsere Prinzipien fehlgeleitet, dass unsere Hoffnungen blauäugig und unsere Wünsche eine Verleugnung dessen waren, was wir sind. Wir werden alle den Horizont sehen und erkennen, dass es keinen Horizont gibt, der uns dazu auffordert, umzukehren und dass jeder Tag, an dem wir unseren Weg weitergehen, das Verblassen unserer Namen, das Verstummen unserer Rufe, die Zerstreuung all dessen bedeutet, was wir waren.
Und die Fragen werden drängender werden. Dabei wird es nicht die Zeit sein, die uns quält, sondern das Wie, das die verstrichene Zeit füllt, das Was, das alles Geschehene beschreibt, das Warum, das hinter jedem Ereignis lauert, das wir erleben.
So wird eine Ära anbrechen, die uns alle an den uns zugedachten Platz verweist, damit wir tun, wozu wir hier sind.
Wenn es nun sein soll, dann lassen wir es sein wie es ist. Jeder scheint dort zu sein, wo er sein muss.
10 Jahre nach dem Anfang
Aus meinen privaten Aufzeichnungen vom Drachenmond, 350 nGF
Ich sah zu viel und ich sah zu wenig. Zu viel, um zu erkennen. Zu wenig, um zu verstehen.
Ich bin einer Weisung gefolgt, habe vor zehn Jahren begonnen, Schritt für Schritt den Willen eines anderen in die Tat umzusetzen. Doch jede Tat resultierte in einer Frage, die ich mir nicht stellte. Und weil ich sie mir nicht stellte, hatte ich auch keine Antworten. Jetzt sind die Fragen da – hunderte, tausende winzige Stiche in meinem Kopf und meiner Seele – Irritationen all dessen, wofür ich stehe, eine Erschütterung meines Vertrauens in denjenigen, in dessen Namen ich handle. Das, was ich vor vielen Jahren noch mit einer fast stoischen Ruhe, einer unbeteiligten Hinnahme, einer fraglosen Gelassenheit vollbracht habe, ist heute von einer tödlichen Krankheit befallen – dem Zweifel. Mehr und mehr setzt mir die Frage zu, was hier geschieht und warum es geschieht. Ich fühle mich immer schmerzhafter davon getrieben, zu verstehen, was ich überhaupt für eine undankbare Rolle in seinen Plänen spiele. Was für ein Bauelement in dieser architektonischen Meisterleistung verkörpere ich? Tragend oder nicht tragend? Unabkömmlich oder entbehrlich? Zum Guten oder zum Schlechten?
Ich sah zu viel und ich sah zu wenig. Ich habe gesehen, wie seine Handlanger für seine Ziele über Leichen gingen, und ich habe akzeptiert, dass ich einer dieser Handlanger war. Ich habe gesehen, wie er seine Opfer blind und taub für die Wahrheit machte, und ich habe verstanden, dass nicht nur seine Gegner Opfer sind, sondern auch seine Verbündeten, mit anderen Worten: wir.
Ich habe gesehen, wie Bündnisse eingegangen, Kriege heraufbeschworen, wie Hände geschüttelt und abgeschlagen wurden, wie er Blut von der Klinge leckte, die ich kurz zuvor in den Hals eines Freundes gestoßen hatte, wie er mit einem neutralen Ausdruck auf seinem detailliert gezeichneten Gesicht erklärte, dass Kinder, Frauen und Zivilisten, die dem Chaos angehören, hingemetzelt werden sollen – zum Wohle dieser Welt. Dass es sogar unsere Pflicht wäre, dies zu tun.
Und ich habe mich damit abgefunden, dass ich den Grund dafür nicht weiß und vermutlich nie wissen werde, weil ich eben nur dienend bin und nicht herrschend. Weil ich eben der unbedeutende Rest bin, der dem bedeutenden Ganzen einen Dienst erweist.
Doch jetzt ist alles anders. Jetzt habe ich zu viel gesehen, um zu erkennen und zu wenig, um zu verstehen. Ich habe zu viel gesehen, als dass meine Augen in dieser Flut an Eindrücken hätten erkennen können, was die eigentlich bedeutungsvollen Elemente in diesem großen, unzusammenhängend erscheinenden Ganzen sind. Und ich habe zu wenig gesehen, um mir einen Reim darauf zu machen. Zu wenig, um das große Ganze zu begreifen.
Aber es reicht nicht mehr, sich bloß dem Willen eines anderen zu beugen. Es ist längst nicht mehr genug, einen Auftrag nach dem anderen auszuführen, einen Befehl nach dem anderen zu befolgen. Jetzt bin ich frei, weil er mich freigegeben hat. Jetzt habe ich begonnen, Entscheidungen zu treffen – auf der Basis meiner ganz persönlichen und von allen anderen unabhängigen Ambitionen, Idealen, Motiven. Ich habe damit begonnen, eigene Wege zu beschreiten. Und das Verheerende daran ist, dass ich es nicht besser weiß als noch vor zehn Jahren. Ich weiß immer noch nicht, was es mit all dem auf sich hat, das ich in seiner schönen, neuen Welt erlebte. Ich weiß noch immer nicht, wofür ich hier eigentlich kämpfe und ob es etwas gibt, wofür es wert ist, zu sterben ...
Ich bin hier. Und hier soll ich tun, was man von mir erwartet. Hier soll ich das Sandkorn ins Rollen bringen, weil er es so will. Doch weder weiß ich, was genau das Sandkorn ist, noch, welche Seite der Waagschale zu voll und welche zu leer ist. Ich weiß ja nicht einmal, was genau die beiden Waagschalen beinhalten.
Was bin ich und wie wirkt sich das, was ich bin, auf diese Welt aus? Gut oder übel?
Wer zur Hölle hat mich geschaffen, und was sagen mein Schöpfer und sein Schöpfungsprozess über mich und meine Gesinnung aus?
Und noch eine Frage versetzt mich wieder und wieder in einen Zustand heilloser Verwirrung:
Hat die Liebe eine Bedeutung in diesem vertrackten und zermürbenden Spiel? Muss ich ihr eine gewisse Beachtung schenken, oder soll ich sie von mir fernhalten? Ist sie Hilfe oder Gefahr? Und werde ich je wissen, was die Liebe ist, was sie bedeutet und wie genau sie sich anfühlt? Werde ich je wissen, ob ich der Liebe fähig bin und ob sie es ist, die mir einen Stich versetzt, wenn ich ihm über die unendliche Diskrepanz unserer Welten hinweg in die Augen sehe ...
Es scheint, als gäbe es eine dumpfe Gewissheit in mir, die sich einfach nicht zu einem klaren, unzerstörbaren Wissen emporschwingen will – eine rastlose Ahnung, ein drängendes Gefühl, eine unerschütterliche Wahrheit. Doch ich kann sie nicht greifen ... Diese Wahrheit ... Sie ist so schlüpfrig wie Lindawens Körper, nachdem ich ihm den Schweiß auf die Haut getrieben habe und so vage wie Kerrims Aussagen, wenn man ihn nach seinem inneren Befinden, seinen Gedanken und Gefühlen befragt. Ich kann sie einfach nicht erreichen, nicht packen, nicht festhalten. Sie entgleitet mir – wieder und wieder.
Ich habe getan, was man mir aufgetragen hat. Ich habe akzeptiert, dass ich nichts weiß und dass ich so schnell auch nichts in Erfahrung bringen werde, das mir weiterhilft. Ich habe gesehen, ohne zu verstehen.
Ich war berechnend, wenn ich getötet, eiskalt, wenn ich eine Wahl getroffen und ohne Zaudern, wenn ich gekämpft habe. Ich war voller Angst, wenn ich meinem Auftraggeber in die Augen geblickt habe und voller Zorn, wenn man sich mir in den Weg gestellt hat. Ich habe mein Herz verschlossen und jeden abgeschmettert, der ihm zu nahe kam. Ich habe mein Herz geöffnet und dem einen oder anderen gewährt, einen Blick hinter die Kulisse zu werfen. Ich habe meine Seele in eine Eisenhaut gegossen, um dem Gefühl keine Chance zu geben. Ich habe meine Seelenhaut niedergerissen, um den viel zu sensiblen und unkontrollierbaren Stoff dahinter in Schwingung zu versetzen, nur um zu sehen, was dann passiert. Ich habe Kriege geführt, mit meinen Feinden, meinen Genossen, meinen Freunden und mit mir selbst. Ich habe meinen Verstand ausgespielt, um mein Herz zu betrügen und mein Herz, um den Verstand auszuschalten. Ich habe meine Gedanken eingekerkert, um der Intuition Raum zu geben und ich habe meine Intuition von meinen Gedanken überrollen lassen. Ich habe Aktion und Reaktion zu meinen Ratgebern gemacht, habe das eine und das andere versucht, die Idee und die Gegenmaßnahme erprobt. These – Antithese ... Heiß – Kalt ... Hell – Dunkel ... Chaos – Ordnung
Plan A, Plan B, Plan C, Plan X und keiner meiner Pläne ist tatsächlich aufgegangen, keine meiner Theorien hat sich tatsächlich bewährt.
Ich habe getan, was man von mir wollte. Ich habe damit gebrochen, zu tun, was man von mir will. Ich habe die Fäden gekappt und doch halte ich sie verzweifelt hoch, in der Hoffnung, dass er sie erneut aufnimmt, um mich auch in Zukunft an ihnen tanzen zu lassen. Ich habe das Los der Leibeigenen hinter mir gelassen, um meine eigenen Ziele zu verfolgen. Ich habe dem Chaos Einzug in meine Seele gewährt, weil ich der Überzeugung war, dass ich beides bin – Chaos und Ordnung. Die Schwarze Sonne ...
Und was jetzt? Was jetzt?
Strichpunkt
Nachricht an die Priesterschaft, 351 nGF, elf Jahre nach dem Anfang
Meine Herren,
ich gebe hier keinen vollständigen Bericht ab. Am Ende dieser Worte werdet ihr keinen „Punkt" finden. Kein „Ich habe getan was ich konnte STOPP Hiermit ziehe ich mich aus dieser Mission zurück STOPP Diese Nachricht dient der Bekanntgabe meines Rücktritts STOPP Viel Erfolg für das Gelingen der Mission AUSRUFUNGSZEICHEN"
Nein. Am Ende meiner Stellungnahme findet ihr weder ein „Ausrufungszeichen" als Beweis meiner Verzweiflung noch einen „Punkt" zum Zeichen meines Stillstandes. Denn ich bin noch nicht am Ende.
„Ich habe mich gerade erst warmgespielt STOPP Dies ist der Zeitpunkt, wo ich kurz Luft hole, ausatme und mich neu orientiere STOPP Danach wird sich hier einiges ändern STOPP Fürchtet ihr die Frau in Schwarz FRAGEZEICHEN Ihr fürchtet sie nicht genug BEISTRICH ..."
Nach dem Beistrich folgt die leere zweite Hälfte des Pergaments, auf das ich diese Nachricht gekritzelt habe – die zweite Hälfte einer Botschaft, die nicht niedergeschrieben wurde. Die Botschaft aber werdet ihr dennoch vernehmen, auch wenn ihr sie nicht sehen könnt.
Die Botschaft lautet: Ihr werdet mich nicht kommen sehen! Ihr werdet keine Ahnung haben, wann, wie und von wo aus ich zuschlage! Ihr werdet blind sein. Ihr werdet euch in jedem verfluchten Augenblick, in dem etwas Unvorhergesehenes geschieht, fragen, wer oder was hier erneut für Chaos sorgt.
Ja, nach dem Beistrich gibt es nur noch den leeren, beängstigenden Raum auf einer Schriftrolle, den ihr mit Verschwörungstheorien und falschen Schlüssen füllen könnt.
Bin ich nicht bemitleidenswert größenwahnsinnig?
Keine Frage, das bin ich. Und das ist mein Glück und euer Pech. Denn der Größenwahn schützt mich davor, aufzugeben. Er heizt mich dazu an, weiterzumachen. Er will, dass ich selbst aus den aussichtslosesten aller Situationen noch raushole, was rauszuholen ist. Er motiviert mich dazu, bis ans Limit, bis ans Äußerste meiner Kraft und meines Ideenreichtums zu gehen.
Der Größenwahn ist ein notwendiger Teil des Willens, etwas Großes zu schaffen. Ohne Größenwahn hätte ich schon längst aufgegeben. Ohne maßlose Selbstüberschätzung säße ich längst im Kerker oder wäre tot.
Dies sind die Fakten.
„Ich bin einen Schritt zu weit gegangen FRAGEZEICHEN
Meine Herren, ich werde noch viele Schritte zu weit gehen STRICHPUNKT"
Offene Tür
Die Sache mit dem Tod ist einfach.
Der Tod ist das Tor zur Glückseligkeit.
Er ist die Alternative zum Leben.
Er ist die Wahl, die ich jederzeit treffen kann, ein Angebot, das ich annehmen kann, wann auch immer mir der Sinn danach steht. Der Tod ist ein Gastgeber, von dem wir noch einiges lernen können.
Er sagt niemals nein. Er empfängt jeden, gleich welcher Gesinnung, gleich welchen Standes oder Dünkel, und jedem ist er Herberge und Heimat.
Die Erfahrung lehrte mich, dass sich das Leben um vieles leichter leben lässt, hat man den Tod als Gefährten – einen Mitstreiter, der, fürchtet man ihn, höllischer Art sein kann. Doch kennt und respektiert man ihn, ist er ein treuer Freund und Helfer. Alles mündet in dem Wissen, dass man eines Tages sterben wird und dieses Wissen macht alles erträglich, sogar leicht und erheiternd. Die Frage nach dem Warum stirbt mit dem Wissen über die Sterblichkeit – damit ist alles fraglos, alles geklärt, alles leicht. Ich tue, was immer ich für richtig halte, denn wer oder was sollte mich zur Verantwortung ziehen? Wenn ich sterbe, ist alles vergessen und vergeben.
Und weil ich Chara bin, halte ich es für richtig, zu dienen. Weil ich Chara bin, halte ich es für gut, jemand anderem ein Mittel zum Zweck zu sein. Ich habe den wahren Meister gefunden – ein größeres Glück konnte ich für mich nicht erhoffen. Für jemanden wie Al'Jebal zu kämpfen und mit dem Tod an meiner Seite durch dieses, von mir gewählte Leben zu gehen ...
Ich bin Chara und ich tue, was auch immer man von mir erwartet, was auch immer er von mir erwartet – ohne an mich zu denken, ohne an andere zu denken, ohne zu hadern, zu zögern, zu fragen. Nie wollte ich etwas anderes, nie mehr als das. Denn er ist der Weisheit letzter Schluss. Er ist die Macht, die nie das Mächtigsein im Sinn hatte, die Kraft, die das Sein in Bewegung bringt, der Plan, der die Welt auf den Kopf stellt. Mein Beitrag beläuft sich darauf, dass ich seinen Willen in die Tat umsetze – da bin ich eine von vielen und das ist gut so. Damit kann und konnte ich leben. Damit konnte ich aber auch sterben. Doch nun hat der Tod seine edle Fratze von mir abgewandt ...
Anfang 341 nGF
Es war, wie es hätte sein sollen. Es war genauso wie das Ideal in meinem Kopf, mein Bild von einem wirklichen Zuhause. Ich hätte es nicht besser erdenken können ... das Zimmer in der Assassinenhochburg ... Nicht neu, nicht alt, schon immer hier, schon immer in den Felsen geschlagen, schon immer in Stein gemeißelt, schon immer MEIN, schon immer der Ort, an den ich gehöre.
Verrückt, dass ich schon beim Aufbruch nach Aschran seinen Namen auf den Lippen trug, seltsam, dass ich, seitdem ich denken kann, seitdem ich Assassinin bin, seit meiner Ausbildung beim Bettlerkönig, also im Grunde mein ganzes Leben lang, von dem Mann mit dem Namen Al'Jebal fantasierte. Ich malte mir aus, wie es sein könnte, zu seinen Assassinen zu gehören, zu jenen meines Schlags, die in ganz Amalea berüchtigt waren. Und nun war ich hier, war eine von ihnen und es war mir, als hätte es nie eine Alternative gegeben. Dabei glaube ich weder an Schicksal, noch an den Einfluss der Götter. Es war auch nicht das Schicksal oder der Wille eines Gottes, der mich zu Al'Jebal führte, es war Zufall, dass eine Assassinin des Bettlerkönigs nach Aschran aufbrach, um ihrem damaligen Meister einen Dienst zu erweisen und der Zufall ließ es geschehen, dass Al'Jebal diese Assassinin für seine eigenen Zwecke nutzen konnte.
Und doch schreit heute alles in mir:
Du Närrin! Es war vorherbestimmt! Es stand in den Sternen, lange bevor du überhaupt geboren wurdest! Du hattest nie eine Wahl! Es gab nie ein, „Ich will!" Es gab immer nur ein „Es wird geschehen!" Also sprich nicht von Zufall, sprich einzig und allein davon, dass das Schicksal die Fäden in der Hand hielt, ZU JEDER ZEIT! Erkenne, dass es das Schicksal war – das Schicksal ... die Bestimmung ... ein Plan ... AL'JEBAL.
Oh nein, ich hatte nicht den Hauch einer Idee, was es bedeuten könnte, SEINE Assassinin zu sein! Ich hatte einen Traum, doch der stand in keiner Relation zu den Fakten! Was aus mir geworden ist, seit jenem Tag, als ich ihm die Treue schwor, hat nichts mehr damit zu tun, was ich einst war. Und Schuld daran ist ER!
Allein, es spielt keine Rolle, weshalb ich hier bin. Es ist sinnlos danach zu fragen, wie und warum ich hierher kam. Wozu fragen, wenn dir keine Antwort der Welt eine Alternative bieten kann, weil alles längst entschieden und geschehen ist.
„Wenn es nun sein soll, dann lasst es sein wie es ist. Jeder ist dort, wo er sein muss."
Dort, wo wir uns zuhause fühlen, sind wir hergekommen. So würden es auf jeden Fall die vom Stamm der Goygoa ausdrücken. Und sie hätten Recht. In dem Moment, da wir uns zuhause fühlen, sind wir, auf welchen Umwegen auch immer, gerade zu uns zurückgekehrt. Wir waren in der Fremde und kamen in die Heimat. Genauso fühlte ich, als ich das Zimmer in der Assassinenhochburg betrat. Ich stand da, in diesem großen in den Felsen geschlagenen Raum, der ein Bett, einen Waffenständer, einen Kamin und einen Tisch beherbergte und es war, als wäre ich längst schon dort gewesen. Ich war nur eine Weile weg gewesen, und während ich meiner Wege ging, hatte ich vergessen – vergessen, wo ich herkam, vergessen, wo ich hingehöre, vergessen, wer mein wahrer Meister ist. Als ich die Tür zu meinem zukünftigen Zimmer aufstieß und mein Blick auf das schwarze, viel zu große Bett im Zentrum fiel, wusste ich wieder, wer ich war, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was genau das bedeutet. Es gibt neben der gewussten Erkenntnis eben auch eine gefühlte Gewissheit, und diese wird nie eine Erklärung abgeben. Sie wird dich immer nur wissen lassen, dass etwas richtig oder falsch ist. Das „Warum" wird sie dir nicht beantworten. Das „Warum" musst du dir hart erkämpfen. Und erst wenn du am Ende deines Wegs angekommen bist, wirst du sagen können: „Darum!"
Das Lied des Assassinen - Teil Eins
Aus meinen privaten Aufzeichnungen von 352 nGF
„Glaube nichts und wage alles!" Dies ist die Quintessenz der Lehre, der sich jeder Assassine unterziehen muss. Egal, ob er in den Diensten des Bettlerkönigs, Al'Jebals oder irgendeines anderen Meisters steht.
„Glaube nichts!"
Wie einfach das klingt, wie trivial! Die Wahrheit ist viel diffiziler. „Glaube nichts!" Gar nichts! Kein Mensch ist dazu imstande, jeglichen Glauben außen vor zu lassen. Nicht einmal ein Assassine. Das weiß sein Meister auch und das ist es, was ihm das entscheidende Instrumentarium in die Hand legt. Auf das, woran wir Assassinen trotz aller Agnostik dennoch glauben, komme ich aber später zurück.
Nichts zu glauben – darin liegt ein grundsätzliches Misstrauen allem und jedem gegenüber. Aber das ist noch nicht alles. Das „Glaube Nichts" beginnt in den tiefsten Tiefen der assassinischen Seele, wo es von fremder Hand eingepflanzt wurde, um allmählich auszutreiben. Es beginnt bei der Dekonstruktion des Ichs, der Deformierung des naturgegebenen Welt- und Selbstbildes, das uns von der Richtigkeit und Wichtigkeit allen Seins erzählt. Es beginnt beim Zweifel an allem, was existiert, weil nichts davon wichtig zu sein scheint. Es beginnt mit der Zerstörung einer Melodie, um ein Lied zu schaffen, das die Welt in ein anderes, ein trübes, egales Licht taucht. Das Lied berichtet von unwürdigen Cäsaren, von machtsüchtigen Despoten und Usurpatoren, von der Nichtigkeit der Götter oder ihrer Geschöpfe, von der Unbill der Throne, die auf dem Fundament religiösen Fanatismus erbaut wurden. Das Lied berichtet von der Sinnlosigkeit der Welt an und für sich. Es ist das Lied des Assassinen.
Der Assassine kennt nur seine Melodie, nicht aber die Noten oder den Inhalt. Der Assassine weiß nichts. Er hat nur eine Gewissheit und die wurde ihm in den Leib geboren (nein, nicht gestoßen, wie man meinen möchte!). Sie sucht sich langsam und behutsam einen Platz im Kopf, keimt, wächst und gedeiht, bis sie eines Tages unanfechtbar sein wird. Die Gewissheit des Assassinen beläuft sich darauf, dass es eine, genau eine Weisheit gibt, die rechtens und sinnvoll ist. Sie liegt allem, was ist, zugrunde. Und sie ist nur einer Hand voll Leuten zugänglich. Der Bettlerkönig nannte sie „Logos", Al'Jebal nennt sie „Bathir", und keiner ihrer ergebensten Diener wird je erfahren, was es damit auf sich hat. Die Weisheit ist den Meistern vorbehalten. Die Meister wiederum nennen wir (zumindest in Aschran) „Namai" – die, die über den Dingen stehen. Und ihrem Ruf folgen wir!
„Wage alles!"
Hier beginnt der Kampf des Assassinen. Wenn man keine Angst hat, hat man auch keinen Grund zu zögern. Man hat wiederum keine Angst, wenn man allen Dingen die Bedeutung abspricht, sogar sich selbst und dem eigenen Leben. Wenn man nichts hat, hat man nichts zu verlieren. Viele Assassinen singen, wenn sie einen Mord verüben, der nicht unbemerkt geschehen soll. Ja, sie singen! Sie singen darüber, dass es egal ist, was sie tun, weil danach nichts mehr ist und alles was war, keinen Sinn hatte.
Das Lied des Assassinen erzählt von Anarchie, wo die Ordnung Fehler macht. Es will das Chaos, weil im Chaos die Tabula Rasa lebt – das Nichts, das ebenso erstrebenswert ist wie das Alles, weil nichts von Bedeutung ist. Das Lied des Assassinen will gehört werden und wird gehört, denn es ist schwarz und beängstigend. Doch was das Lied will, will nicht der Sänger, sondern der Komponist. Denn das Lied gehört ihm. Ein Assassine singt die Arie seines Meisters, weil er sie für das einzig Wahre hält, die Erkenntnis aller Dinge, den Ursprung und das Ende der Welt. Es ist der Ruf danach, das starre Weltgefüge bis zur Unkenntlichkeit zu erschüttern, auf das alles, was ist, seiner Bedeutungslosigkeit Rechnung trägt.
Ich wollte nie darüber reden, was ich war und warum. Ich hätte darüber geschwiegen, für immer, und noch vor einem Jahr hätte mich nichts dazu bewogen, den Mund aufzumachen. Aber nun bin ich meiner alten Welt entschlüpft, habe mich sozusagen von innerhalb des mir bekannten Systems ins Außen katapultiert, bin nicht länger betroffen, sondern unbetroffen von allem, was ich anfangs war und kann nun einen unverfänglichen Blick riskieren. Jetzt will ich darüber reden! Ich will die Wahrheit für mich und für diejenigen, die es besser wissen wollen. Ich will reden, damit die, die vorschnell mit dem Finger auf meinesgleichen zeigen, es verstehen ... oder auch nicht.
Das Credo des Assassinen beginnt mit der ersten Etappe der Ausbildung, der ersten Gehirnwäsche, dem Kampf um den ersten Grad, den wir alle erreichen wollen und gipfelt im vollendeten Nihilismus. Der perfekte Assassine hält alles für einen Betrug, das nicht der Lehre seines Meisters entsprungen ist und nichts für ein Verbrechen, was sein Meister befiehlt oder er selbst tut. Er hält genau genommen gar nichts für ein Verbrechen, weil er damit aufgehört hat, Taten zu beurteilen oder Dinge zu bewerten. Mit dieser Einstellung begründet der Assassine seine Gewissenlosigkeit. Der perfekte Assassine in Al'Jebals Reihen heißt „Ibahie", der Gleichgültige, seine Taten sind „mulhad", gottlos. Es liegt auf der Hand, dass Assassinen jeder Religion abgeschworen haben. Ihre häretische Einstellung bildet auch den Kern ihrer Lehre: Kein Gott – kein universelles Ideal, kein Gott – keiner, der dich zur Verantwortung ziehen kann, wenn du aus dem Leben scheidest, kein Gott – kein von Gott eingesetzter Herrscher und damit niemand, der rechtmäßig herrscht, (ein Meister herrscht nicht, er ist vielmehr darum bemüht, die Weltordnung zu strapazieren, um die Schwächen auszuloten. Das behauptet zumindest seine eigens erschaffene Lehre, die die Philosophie und Mystik hinter dem Logos, dem Großen Ganzen erkannt und zum Alpha und Omega erklärt hat.). Vulgo, kein Glaube – keine Moral, kein Ideal!
Der perfekte Assassine glaubt an nichts und wagt alles. Er ist ein von weiser, nein, genialer Hand erschaffener Ungläubiger, der mit allen erdenklichen rhetorischen Tricks und über viele Jahre des Studiums des sogenannten „Geheimen Wissens", das die Welt in ihrer Nichtigkeit entlarvt, gefügig gemacht wurde. Er ist „Samit" (ein Stummer), der mit dem Aufgebot aller nur denkbaren Mitteln der Sophistik zum eiskalten Pragmatiker und Mörder herangezüchtet wurde.
Es mag Ironie sein, dass wir Assassinen auch „Sindik" geheißen werden, was nichts anderes bedeutet als Freigeister. Frei sind wir, in der Tat. Wenn wir ein Attentat verüben, sind wir frei von allen Skrupeln und Bedenken, frei von Todesangst, frei von jedweder Sorge darüber, was danach kommt. Aber unsere Herzen sind verschnürt und unser Kopf ist voller Gedanken, die nicht die Unsrigen sind und denen wir nicht entkommen können. Ich, dieses Wort existiert nicht, weder in unseren Köpfen, noch in unseren Herzen. Denn wir sind zur Gleichgültigkeit erzogen und auf Selbstvergessenheit getrimmt. Wir wollen nichts und streben nach nichts, suchen nichts und fühlen nichts. Wir kämpfen nur für den Meister, der sich uns als ein Unikat präsentiert, als der Einzige, der die verborgene Weisheit erkannt hat und das geheime Wissen um die Welt in sich trägt. Er ist der „Weisheit letzter Schluss".
Der Bettlerkönig war nie weise genug, um mich zu überzeugen, oder besser, seine Weisheit überzeugte mich nicht. Er hatte es aber auch nicht nötig. Davon abgesehen wäre es ihm aufgrund meines fortgeschrittenen Alters (ich war fünfzehn, als ich zu ihm kam), ohnedies nicht mehr möglich gewesen, mich zu indoktrinieren. Ich brauchte niemanden, der mir sagte, dass nichts in der Welt einen höheren Sinn hatte, niemanden, der mir einbläuen musste, dass ich nicht den geringsten Wert für diese Welt besitze. Diese Weisheit lehrte mich meine Kindheit. Ich hatte nur ein Problem: Wenn nichts von Bedeutung ist, nicht einmal du selbst, und wenn die Welt nichts zu bieten hat, wofür es sich zu kämpfen lohnt, dann gibt es nur eine Alternative: Stirb! Denn dein Leben ist für nichts gut und die Welt kann genauso gut untergehen.
Gleichgültigkeit – dem wahren Assassinen so verinnerlicht, wie einem Priester die Gewissheit, dass alles seine Bedeutung und seinen Platz hat, weil alles gottgewollt ist. Für mich war alles egal. Nur war ich an einen Punkt gelangt, an dem mir die Ausreden ausgingen. Ich lebte, wusste aber nicht mit welchem Recht. Ich brauchte einen triftigen Grund dafür, dem Tod den Rücken zu kehren. Und den verschaffte mir der Bettlerkönig. Das war's. Das ist der Anfang meiner Laufbahn. Ich war nicht dazu auserkoren, eine Assassinin zu sein und die Tristesse meiner Kindheit ist ein Drama unter Vielen. Ich suchte einfach nur einen Grund, mein Leben dem Tod vorzuenthalten und fand ihn. So begann meine Geschichte als Assassinin.
Ein Assassine ist ein Mensch, den entweder das Leben oder die Lehre seiner Schule in die Knie gezwungen hat. In meinem Fall war es Ersteres. Ein Assassine hat seinen Glauben, seine Ideale und seine Hoffnung verloren. Was ihm danach noch bleibt, ist das Versprechen des Meisters: Wenn du stirbst, wirst du im Nichts aufgehen, so wie es die Welt vorgesehen hat. Aber bis dahin ist es dir erlaubt, alles zu tun und nichts zu bereuen. Glaube an nichts und wage alles! Ehre nichts, abgesehen von mir, denn ich bin „der Weisheit letzter Schluss". Für dieses Versprechen leben wir. Dafür und für die Drogenexzesse, die jeder Meister seinem gehorsamen Diener zugesteht, sobald er geleistet hat, was zu leisten war. Nichts zu glauben und alles zu dürfen, zumindest im Rahmen dessen, was der Meister befiehlt, ist die Summe jener Lehre, die der Assassine verinnerlicht. Es ist die Lehre, die jede Religion und Moral von Grund auf vernichtet.
Al'Jebals Assassinen sind „Motasali" – Abtrünnige. Sie sind das beste Werkzeug dämonischer Politik, die beste Waffe eines Machthabers, der über seine skrupellosen Instrumente weit mehr Einfluss auf die Welt ausüben wird, als ein simpler Usurpator oder ein von Amt und Würden eingesetzter Monarch. Ob zum Guten oder zum Schlechten? Das hatte keine Bedeutung für mich. Wie auch, ich war ja eine Ibahie.
„Ich bin der Bote des Nichts,
bin ohne Hoffnung geboren.
Ich trag den Mantel der Nacht,
hab mich im Schatten verloren.
Meine Stimme singt sein Sehnen.
Meine Seele seine Welt.
Seine Worte sind mir heilig,
eine Rüstung, die mich stählt.
Und ich singe seine Lieder,
töte, was das Lied nicht hört,
geb' nicht preis und gebe wieder,
was allein der Nacht gehört.
Und ich sing euch seine Lieder,
sing euch in den Untergang,
weil nichts ist, das von Bedeutung,
weil wir singen ohne Klang.
Ja, ich singe seine Lieder,
bin der Bringer seiner Macht,
stehe auf und gehe nieder,
und entschwinde in die Nacht ..."
Das Lied des Assassinen - Teil Zwei
Aus meinen privaten Aufzeichnungen von 352 nGF
„Hatschmaschin", so nennt man die Assassinen Aschrans eigentlich. Der Name Assassine hat sich aus dem Unvermögen der nicht-aschranischen Bevölkerung entwickelt, den Namen richtig auszusprechen – das zumindest ist eine Theorie. Die ersten Assassinen kamen aus Aschran. Welchem Meister sie dienten ist nicht bekannt. War es Al'Jebal? Nachdem sein Name „erst" vor 240 Jahren das erste Mal zur Sprache gebracht wird, ist dies unwahrscheinlich. Die Geschichte der aschranischen Assassinen dürfte älter sein.
„Hatschmaschin" – das bedeutet nichts anderes als „Die Hatschmana-Raucher". Die Droge ist wiederum ein Teil des Versprechens, das der Lehrer seinem Schüler gibt und an welches er sich auch rigoros hält. Einen Assassinen zu enttäuschen ist ein Fehler! Nicht, weil er sich rächen wird. Dazu ist er gar nicht befähigt. All sein Verlangen wird vom Willen seines Meisters gegängelt – ein eigenes Begehr gibt es nicht. Der Meister aber wird seinen Assassinen nie enttäuschen, indem er sein Versprechen nicht hält. Ein solcher Eidbruch wäre ein Verfehlen, das das gesamte System des assassinischen Regimes, sprich, der Herrschaft auf der Basis enteigneter, der Moral gänzlich enthobener Handlanger, zu Fall bringen könnte. Ein nicht gehaltenes Versprechen des Meisters würde die unerschütterliche Treue seines Schülers ins Wanken bringen – ein unberechenbares Risiko. Warum? Assassinen sind zwar grundsätzlich Einzelgänger, aber der Kontakt zwischen ihnen ist dennoch unvermeidbar. Ein zweifelnder Assassine könnte innerhalb der Wechseldynamik mit anderen seiner Art ein ganzes, wohl gestaltetes, fein ausbalanciertes, perfektioniertes Machtgefüge zum Erliegen bringen, das Geschwür des Zweifels in den eigenen Reihen gedeihen lassen. Das Regime der Assassinen, oder auch der „Gottlosen" (der „Mulahid" = die Ruchlosen oder „die, welche die Götter verdammen wollen") basiert auf der Unantastbarkeit des wahren „Göttlichen", das nur demjenigen zukommt, „der über den Dingen steht", kurz, dem Meister. Der Göttliche aber ist vollkommen. Und es liegt in der Natur der Vollkommenheit, keine Fehler zu begehen, keine Mängel aufzuweisen, wahrhaftig zu sein. Es mag bizarr klingen, aber ein Assassine fühlt sich auserwählt. Würde sein Meister ihn belügen, würde er nicht nur an ihm, sondern unweigerlich auch an seinem eigenen besonderen Stellenwert zweifeln. Der Mensch lebt dafür, sich besonders zu fühlen, in der Masse der anderen Einzigartigkeit zu verkörpern. Das betrifft den Assassinen ebenso wie jeden anderen. Die Tatsache seiner völligen Selbstvergessenheit spielt da wenig Rolle. Würde der Meister seinen Assassinen täuschen, würde er ihm damit deutlich machen, nichts weiter als ein Handlanger zu sein. Oh nein, der Assassine nimmt sich nicht als Handlanger wahr! Den Handlanger in ihm mögen alle anderen sehen, nicht aber der Assassine selbst. Begriffe er sich selbst als Handlanger, würde er sofort eine Abneigung dagegen entwickeln, sich bedingungslos zu unterwerfen. Und dieses Risiko geht kein Meister ein.
So viel zu dem, was uns Assassinen eingeboren wurde. Die innere Lehre, das „Bathir", darüber würde ich selbst heute noch nicht sprechen. Nicht, weil ich sie für etwas halte, das niemand außer den Eingeweihten zu wissen hat (zu denen abgesehen vom Meister nur die höchstrangigen Assassinen zählen, im Falle Al'Jebals ist das Assef El'Chan), sondern weil ich auch heute noch ein Opfer des Dogmas bin, das mir einst in den Kopf gepflanzt wurde. Ich bin schlicht und ergreifend nicht imstande, darüber zu sprechen.
Nur so viel – die Innere Lehre basiert auf dem philosophischen Grundsatz der Gleichgültigkeit der Welt. Die Welt ist nicht, was wir von ihr wahrnehmen. Nichts darin ist von Bedeutung – es gibt weder einen höheren Sinn, noch ein höheres Sein und also auch keinen besonderen Wert für die Dinge oder Wesen, die in ihr existieren. Das Nichts ist so bedeutsam wie das Sein. Aber niemand erkennt diese Wahrheit (an), sodass alle Herrschenden (und auch Dienenden) dieser Welt Getäuschte sind, besonders jene, die behaupten, eine höhere Macht hätte ihnen die Krone aufgesetzt und den Thron zurechtgerückt. Gibt es keine Götter, so gibt es auch kein Recht für den von Gott erwählten und geweihten Regenten. Selbst wenn Götter existieren, so sind sie, der Inneren Lehre nach, nur mehr oder weniger mächtige Wesen, denen kein allmächtiges, vollkommenes Sein zugesprochen werden kann, womit sie nicht mehr wert sind, als alle anderen Bewohner Amaleas.
Aus diesem nihilistischen Grundsatz gebiert sich die alles umfassende Erkenntnis, dass nichts in dieser Welt bewahrt, geschützt oder erreicht werden muss. Dies ist das Fundament des Assassinen: „Glaube nichts und wage alles!". Es gibt kein Verbot, kein Tabu, keinen moralischen Richtwert! Es gibt nur die Antwort des Meisters, die Antwort des einzigen, der das Wesen dieser Welt erkannt hat und auf der Grundlage seines Wissens in die Geschicke derselben eingreift.
Was hat er erkannt? Weswegen greift er in die Welt ein? Das weiß sein Hatschmaschin nicht – es spielt für ihn aber auch keine Rolle. Sein Beitrag beläuft sich darauf, den Willen des Wissenden in die Tat umzusetzen und dabei hat er alle Freiheiten der Welt.
Jeder, der halbwegs bei Verstand ist, weiß, dass es auf das „Warum" hinter den Taten des Meisters nur eine Antwort geben kann: MACHT – wenn möglich, eine absolute! Das Konzept des assassinischen Regimes ist nichts weiter als ein wohl durchdachter Mechanismus zur Häufung der eigenen Macht.
Bis zum absoluten Selbstvergessen untergebene Loyale, die alles in der Welt für eine Lüge halten und nicht die geringsten moralischen Bedenken haben, diese verlogene Welt in den Boden zu stampfen, ist eine entfesselte Naturgewalt. Es gibt keine effizientere Waffe!
Halte ich Al'Jebal für einen, der nur um der Macht willen seine Finger im Spiel hat, und nur um seinetwillen die Geschicke Amaleas beeinflusst, lenkt, gängelt?
Ich bin mir nicht sicher. Ich hoffe, nein ich glaube, dass es sich bei ihm um eine Ausnahme unter den „Wissenden" handelt. Aber sicher bin ich mir nicht.
„Glaube nichts und wage alles!" Erstere Maxime habe ich abgelegt. Ich habe gelernt, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Was ich erlebte, zeigte mir, dass es, entgegen all meiner Überzeugung, nicht egal ist. Ich habe verstanden, dass es in dieser Welt etwas gibt, für das es sich zu kämpfen lohnt. Ich habe gelernt, an etwas (unabhängig von Al'Jebal) zu glauben. Ich habe damit begonnen, etwas zu fühlen.
Da gab es Begegnungen, ein Flüstern in der Dunkelheit, ein Aufbegehren der Seele, ein Verlangen nach mehr ... Es gab Kriege und Niederlagen, den Fall und den Aufstieg, Unterwerfung und Rebellion, den Tod, aber auch die Liebe ...
Was ich nicht vergessen habe, ist die zweite Maxime: WAGE ALLES!
„Ich bin der Bote des Nichts,
bin ohne Hoffnung geboren.
Ich trag den Mantel der Nacht,
hab mich im Schatten verloren.
Seine Stimme singt mein Sehnen.
Seine Worte meine Tat.
Seine Welt ist nicht die meine,
doch in mir wächst seine Saat.
Und ich singe seine Lieder,
sing die Welt in ihren Schlaf,
stehe auf und gehe nieder,
bis auch ich vergessen darf.
Ja, ich singe seine Lieder,
bin der Bringer seiner Macht,
stehe auf und gehe nieder,
und entschwinde in die Nacht ..."
Telos Malakin, Osmosis "Blutbein" und Al´Jebal
Es gibt Leute, die betreten einen Raum, und man kann nicht umhin, sie zu bemerken. Sie treten über die Schwelle und sind anders. Sie sehen anders aus, bewegen sich anders, reden anders und wenn man sich auf sie einlässt, wird man feststellen, dass sie anders denken. Anders zu sein bedeutet einen Kontrast herzustellen – zum Rest der Welt, versteht sich. Kontrastiert man die Welt, ist man wiederum bereits dabei, sie zu verändern. Das ist vielen nicht bewusst, die anders sind, aber die Erfahrung zeigt, es muss schon einiges schief gehen, dass in ihrem Umfeld alles bleibt wie gehabt. Die Anderen kommen an der Veränderung nicht vorbei, die sie selbst auslösen.
Die, die nicht anders sind, sind viele. Sie sind zwar einzigartig, aber das liegt nun mal in der Natur des Individuums und das ist es, was wir alle sind - individuell und damit einzigartig. Aber einzigartig zu sein ist nicht dasselbe, wie anders zu sein. Wir, die wir verschieden sind, haben doch alle ein Gemeinsames. Es manifestiert sich in dem, was uns gewöhnlich macht. Es zeigt sich in unserer Neigung, uns den Gesetzen und Richtlinien der Masse zu beugen. Wir wollen gar nicht besonders sein – falsch – wir wollen es schon, sind aber letztlich zu feige dafür. Wir haben's nun mal nicht gerne unbequem und unvorhergesehen. Wir essen in unserer Stammschenke lieber immer den gleichen Fraß, bevor wir, die Götter mögen es verhüten, etwas anderes versuchen. Man male sich aus, wie unschön es endete, wenn wir unsere hart verdienten Kupferlinge für eine möglicherweise ungenießbare Mahlzeit auf den Kopf stellen würden. Lieber auf das verlassen, was wir irgendwann einmal für gut befunden haben! Lieber unseren Arsch auf jenen Stuhl betten, dessen Polsterung sich bewährt hat. Das Problem ist leider, dass wir damit Gefahr laufen, unser ganzes Leben lang nur Kamelwurst zu fressen oder den Stuhl nie mehr verlassen, der uns einen solch hohen Komfort beschert, dass unser Arsch förmlich mit dem Polster darunter verschmilzt. Wir haben's eben gerne kuschelig, vertraut, sicher, risikofrei und wenn möglich, vorhersehbar. Da muss es uns nicht wundern, wenn sich jede unserer Besonderheiten im Laufe unseres Lebens verdünnisiert. Die, die anders sind, waren es schon immer und sie werden es immer sein. Es sind jene Leute, die jeden Morgen mit einer Idee aufwachen oder sich am Abend fragen, ob der gerade bestrittene Tag einen Augenblick des Innehaltens barg, weil etwas Unvorhergesehenes passierte. Die haben auch Angst, aber ihre Neugier, ihr Kampfgeist, ihre innere Kraft und ihr Mut zur Lücke sind einfach stärker. Und wenn sie einen Raum betreten, lesen wir in ihren Gesichtern, dass sie etwas Besonderes sind. Telos Malakin ist so jemand. Osmosis ist es nicht.
Osmosis „Blutbein", heute sogar „Die heilige Osmosis", damals einfach nur „Die Issisa-Priesterin". Sie ist wie Telos eine Gottesfürchtige und darin sind sie beide gewöhnlich. In Amalea gibt es eben kaum jemanden (unter den Menschen wohl gemerkt), der nicht an die Götter glaubt oder ihnen huldigt. Die Priester geben diesem Massenschwerpunkt ein Gesicht. Die Menschheit krümmt sich um das Prinzip ihrer Götter wie das Rad um die Speichen und kaum jemand würde es wagen, das Gebot eines Gottes außer Acht zu lassen. Zwei Priester, einer wie der andere würde für seinen Gott über Leichen gehen, aber während Osmosis „Blutbein" – den Namen verdankt sie jenem glorreichen Moment, der ihren Lebenshöhepunkt markiert – über eine Kette zufälliger Ereignisse zu ihrer Besonderheit fand, fand Telos Einzigartigkeit, und er fand sie bereits bei seiner Geburt. Seine Kindheit sorgte dafür, dass er sie zur Waffe schmiedete und als er in Al'Jebals Dienste trat, war er bereit. Er hatte alles, was er brauchte, um seine innere Stärke zum Aggressor gegen alte Überzeugungen werden zu lassen. Man mag es dem Paradebeispiel normgebender Vernunft nicht zutrauen, aber Telos Malakin überschritt eine Grenze nach der anderen, solange, bis er „Schlächter von Urdhaven" oder „Gottesfeind" geheißen wurde. Und er tat es nicht, weil der Zufall ihn dorthin führte, sondern weil etwas in ihm steckte, das nicht umhin kam, das Vorhandene zu hinterfragen, gegen das übliche Maß anzukämpfen, mehr zu wollen, als sich zu bescheiden. Es schickte ihn einen anderen Weg, als jenen, den er ursprünglich als von den Göttern für sich erwählt betrachtete. Und er zögerte nicht (oder nicht lange), ihn zu beschreiten. Es begann damit, dass er die Überzeugungen seines alten Pantheons anzweifelte und endete ... Ah, das würde hier zu weit führen.
Das war und ist Telos. Osmosis war anders (im herkömmlichen Sinne). Als Osmosis ... der Name allein ... ach, sehen wir vom Namen mal ab. Rosmerta hat, denke ich, bewiesen, dass ein Name nicht unbedingt entscheidend ist. Die Heldin des Valianischen Imperiums hatte und hat, trotz ihrer unglücklichen Namensgebung, Feuer im Blut, auch wenn dieses flächendeckende Schäden anrichtete ...
Zurück zu Osmosis. Als die Priesterin über die Schwelle des Besprechungsraums der Festung in Billus trat, dachte ich gar nichts. Zugegeben, ich war ein klein wenig abgelenkt. Immerhin war mir einen Augenblick zuvor aufgefallen, dass sich, abgesehen von mir, Thorn, Telos, Bargh und Al'Jebals Rechter Hand, dem Waffenarsenal Agem Ill, noch jemand im Raum befand. Ich schätze, ich muss nicht erklären, um wen es sich dabei handelte – wer mich kennt, kennt auch diejenigen, die mich aus der Fassung bringen und da ich in meinen Aufzeichnungen bisher nur einen davon erwähnt habe, dürfte alles klar sein. Die anderen – Thorn, Bargh und Telos – hatten seine Gegenwart noch nicht bemerkt. Sie betrachteten die Frau im Türrahmen – die Frau, deren Gesicht ihnen nichts sagte.
Osmosis schien, abgesehen von mir, auch bei den anderen keinen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Da halfen ihre hübschen kleinen Katzentätowierungen auf Stirn und Wange und ihre sonderbare Aufmachung, die sich auf zwei um ihren Körper geschlungene rote Fetzen beschränkte, wenig. Sie war sozusagen gewöhnlich und das, obwohl man sie ohne weiteres als hübsch bezeichnen konnte. Wäre Agem Ills Anfrage nicht im Raum gestanden – er gab uns mehr oder weniger deutlich zu verstehen, er müsse sich der Priesterin entledigen, sofern wir keine brauchbare Verwendung für sie hätten – hätte sich wahrscheinlich keiner näher mit ihr befasst (mal abgesehen von Telos und Bargh, die dem Charme hilfsbedürftiger Sonderlinge einfach nicht widerstehen können). Und hätte ich mich nicht mit allen Sinnen darauf konzentriert, Al'Jebals Anwesenheit zu ertragen, ich hätte mich vermutlich gefragt, was den Meister dazu bewog, einen Priester nach dem anderen zu rekrutieren, zumal ihm nachgesagt wurde, dass er ein Feind der Götter sei. So aber fragte ich mich gar nichts.
Da waren wir also, ich, Thorn, Telos, Bargh und die Neue, eine Priesterin der Katzengöttin aus Ahan – der eine von uns mehr, der andere weniger gewöhnlich, aber alle mit demselben Problem. Wir wussten weder, warum wir erneut zusammengeführt worden waren, noch, warum man uns mit dieser Priesterin konfrontierte, die augenscheinlich nichts mit uns oder Al'Jebal zu tun haben wollte. Wir wussten auch nicht, weshalb Al'Jebal sich dazu herabließ, uns einen Besuch abzustatten oder was für einen bekennenden Atheisten wie ihn an Priestern, wie Telos Malakin, Osmosis, Freon Eisfaust und die Priesterinnen der Ianna, von Interesse sein konnte (später wurde mir eines klar: Die Religion ist der Peitschenschlag des Politikers! Aber darüber ein andermal mehr). Noch wussten wir gar nichts, abgesehen davon, dass wir Al'Jebal die Treue geschworen hatten und nun dabei waren, einen Teil seiner Pläne umzusetzen.
Als ich mir mit der Issisa-Priesterin eine Kajüte auf der „Aphrodia" teilen musste, änderte sich meine Meinung über sie nicht maßgeblich. Ich mochte sie nicht, sie mochte mich nicht. Ich fand nur einen Aspekt, der mir an ihr gefiel: Osmosis war augenscheinlich bäuerlicher Herkunft. Sie hatte etwas Biederes, aber gleichwohl Kämpferisches an sich. Letzteres entstammte purem Trotz und es war jener Trotz, der ihr auf den Kabugna-Inseln zum Absprung verhalf. Und vermutlich hatte sie es auch ihrem Trotz zu verdanken, dass sie von der Priesterschaft Ahans in Al'Jebals Gebiet kam, wo sie schließlich ihr Schicksal fand. Über Osmosis Vergangenheit kann ich nur spekulieren, ich habe sie nie danach gefragt.
Wie dem auch sei. Telos Malakin und Osmosis „Blutbein" waren nur zwei der Priester in Al'Jebals „kleiner" Heerschar. Und sie bildeten die wohl seltsamste Abweichung von den Gerüchten, die über den „Alten vom Berg" kursierten. Der „Feind der Götter", wie es über ihn gesagt wurde, umgab sich mit Assassinen und Orks. Das war's. Er nutzte Dämonen für seine niederen Machenschaften und war sich nicht zu schade dafür, die dunkelste Magie anzuwenden, wenn es seinen Plänen zweckdienlich schien. Er war eben ein Überbleibsel aus Chaoszeiten. Wie die Priester der Ordnung in dieses Bild passten, oder auch die Elfen, von denen wir sehr bald einen kennenlernen sollten oder wieso es den einen oder anderen albischen Adeligen gab, der Al'Jebal freundlich gesonnen war, scherte die Leute nicht. Genauso wenig wie mich. Ich war so borniert wie alle, die über den Alten sprachen ohne irgendetwas über ihn zu wissen, nur war ich es eben auf eine gänzlich andere Art. „Wenn man den Blick stur geradeaus richtet, übersieht man, was sich im Abseits tut." Das ist es, was auf mich genau so zutraf wie auf jeden anderen, der nur sah, was er sehen wollte.
Anders zu sein bedeutet, die Welt in Bewegung zu versetzen. Es bedeutet, Veränderungen auszulösen. Einige von uns taten dies im kleinen, andere im großen Stil, wieder andere gar nicht. Aber niemand tat es wie Al'Jebal. Der „Alte vom Berg" ist zweifelsohne ein Paradebeispiel dafür, was es bedeutet, anders zu sein. Darum wusste zunächst auch niemand von uns, was es mit ihm auf sich hatte und wie man sich in seiner Gegenwart am besten verhalten sollte. Die „Anderen" verunsichern uns. Ihre Besonderheit spiegelt unsere Gewöhnlichkeit wider.
Der Tod kann warten
Aus meinen privaten Aufzeichnungen vom Sedag, 1. Trideade im Einhornmond, 348 nGF
Es ist ein Tanz auf dünnem Eis – eine Drehung, eine Bewegung, ein falscher Schritt, ein Knirschen, ein Sprung und dann ... tödliche Wasser.
Meine nackten Füße schreiten über die dünne, kalte Eisschicht, als wüssten sie nichts von der Gefahr unter sich.
Ich hab meine Stiefel vergessen – meine soliden, robusten, rutschfest besohlten Stiefel. Ein Blick zurück sagt mir, dass ich sie am Ufer stehen gelassen habe, der Meinung, dass Chara auch ohne irgendeinen Schutz bestens zurecht kommt. Dort liegen auch meine Klamotten. Ich blicke etwas verwundert an mir herab und erkenne, dass ich nackt bin. Schulterzuckend gehe ich weiter – was soll mir schon passieren. Mir ist nicht kalt. Meine Füße spüren die Kälte des Eises unter sich kaum.
Eine Frage drängt sich mir auf: „Welcher aller Tode ist wohl der Schlimmste?" Ich muss über diese überflüssige Frage lächeln, während ich zu laufen beginne, ohne über den zerbrechlichen Boden unter mir nachzudenken.
„Tod ist Tod", denke ich. „Ende ist Ende. Vergessen ist Vergessen und ich bin ehrlich ganz scharf darauf, mich an nichts mehr zu erinnern."
Einen kurzen Augenblick bin ich unaufmerksam und rutsche fast aus. Doch ich kann mich rechtzeitig fangen. Anstatt langsamer zu laufen, beschleunige ich meinen Schritt.
Was soll jemandem wie mir schon passieren?
Wieder lächle ich. Diesmal über meinen Größenwahn. Und gleichzeitig freue ich mich darüber, dass es mir egal ist – dass mir alles egal ist. Denn eines ist klar: Was auch immer mit mir geschehen mag – ich bin nicht, wofür diese Welt mich hält, bin nichts, das diese Welt verändern könnte.
Kaum dass ich diesen Gedanken aufgefasst habe, stolpere ich und stürze. Gefährlich knirscht das Eis unter meinem Gewicht. Ein Krachen folgt und zwischen meinen Händen und Knien gräbt sich ein Sprung seinen Weg durch die kalte, hauchdünne Schicht gefrorenen Wassers. Ich starre auf das Eis, auf dem ich knie. Plötzlich wird mir klar, dass mich nur ein Hauch von Festigkeit von der hässlichen Finsternis da unten trennt. Ich blicke auf die Einkerbung in dem gläsernen Nichts unter mir, den Sprung, der sich immer weiter ausdehnt und erkenne, dass ich kurz davor bin, in die Tiefe gerissen zu werden – dass ich wie so oft dabei bin, direkt in das Antlitz des Todes zu starren.
Und der Tod beginnt mit mir zu sprechen.
Er sagt: „Chara ..."
Ich frage: „Was gibt's Neues?"
Er antwortet: „Nur das Übliche, Chara, das Übliche ..."
„Ach ja", sage ich und ziehe ein gelangweiltes Gesicht. „Geht's wiedermal um meine Seele?"
Der Tod nickt und lächelt wissend.
Mir ist nicht zum Lächeln zumute, also lege ich mich auf den Bauch, begrabe den Sprung im Eis unter meinem Körper und presse meine Nase gegen die durchsichtige, harte Kruste.
„Die kannst du haben", sage ich dem Tod, während ich direkt in seine schwarzen Augen blicke. Und ich weiß, dass er längst weiß, dass dem so ist. Meine Antwort ist immer dieselbe.
Ich weiß außerdem, was jetzt kommen wird. Der Tod wird seine Hände nach mir ausstrecken und ich werde danach greifen. Das Eis unter mir wird meinem Gewicht nachgeben, der Sprung wird es schließlich entzweireißen und die kalten Wasser werden mich verschlingen.
Und genauso passiert es auch. Ich spüre, wie sich die eisige Flüssigkeit um meinen Körper schließt und an meiner bleichen Haut zerrt. Und ich spüre, wie ich auf den Grund des Ozeans gezogen werde. Ich spüre, wie der Tod näher und näher kommt. Ich spüre, wie er auf mich zutreibt und wie er mich zärtlich umschmeichelt.
Es ist doch immer das Gleiche! Erst tut er alles, um mich in seine Arme zu schließen und dann ist er nicht stark und willens genug, mich zu halten.
Ich stelle mich darauf ein, den mir schon so vertrauten Kampf gegen meinen alten Freund auszufechten, denn jetzt kommt der Augenblick, wo ich dem Tod die Stirn biete. Es ist der Zeitpunkt, an dem die Macht meines Eides zu wirken beginnt und ich mich an mein Versprechen erinnere. Ich höre Al'Jebals Stimme, die mir so vertrauten Worte: Du bist mein. Ich höre meine Antwort, obgleich meine Lippen stumm bleiben. Ich kehre zurück. Ich kehre zu dir zurück.
Also öffne ich meine Augen, wie gehabt. Ich sammle meine Kräfte und will loslegen. Doch da stutze ich. Erst jetzt fällt mir auf, dass der Tod meine Hände losgelassen hat. Verwirrt starre ich in sein Schattengesicht – abwartend, fragend. Ich schwebe in den kalten Wassern und verstehe nicht. Das Gesicht unter mir bleibt stumm, die blassen Geisterhände reglos. Mein Mund will sich öffnen, um ihn anzuschreien, ihn aufzufordern, um mich zu kämpfen, doch sofort dringt salziges Wasser ein und will meine Lungen füllen. Ich presse die Lippen aufeinander und meine Augen beginnen gefährlich zu blitzen. Ich bin wütend, bin fuchsteufelswild!
Da fragt der Tod: „Was soll ich mit dir?"
Und ich habe keine Antwort darauf. Ich bin wie vor den Kopf gestoßen. Während ich darauf warte, dass der Tod sich erklärt, beginne ich die Schmerzen zu fühlen, die ich bis jetzt nicht wahrgenommen habe. Mein ganzer Körper brennt vor Kälte – ich kann mich kaum noch bewegen. Wieder erklingt die dumpfe Stimme des Todes.
„Chara, Chara", sagt er kopfschüttelnd. „Was soll ich mit dir? Was, sag mir, soll ich mit einer Seele, die nicht einmal versucht, sich zu retten? Was könnte ich für ein Interesse an einer Seele haben, die sich ihrer eigenen Bedeutung nicht bewusst ist?"
Ich warte stumm darauf, dass mir der Sinn seiner Worte klar wird, doch alles was ich verstehe, ist, dass ich verloren bin. Ich bin gefangen in einer Welt zwischen den Welten. Wenn der Tod nicht um mich kämpfen will, kann ich nicht um mein Leben kämpfen. Dann bleibe ich für immer in der Widersprüchlichkeit des Lebens und Vergehens gefangen. Wenn ich nicht lebe, bin ich tot. Wenn ich nicht tot bin, lebe ich. Was passiert, wenn ich weder noch bin? Dann bin ich nichts. Ich will schreien, aber kann nicht.
Der Tod lächelt ein maliziöses Lächeln, wie ich es bisher nur von Lomond kannte und sagt erneut meinen Namen.
„Chara, Chara ...", flüstert er. „Wo sind deine Stiefel? Wo deine Kleider, deine Rüstung? Wo hast du deine Waffen?!" Seine Stimme ist jetzt voller Zorn. „Hast du gedacht, du kommst ohne sie klar? Denkst du, weder die Kälte, noch das Wasser, noch der Tod kann dir etwas anhaben? Glaubst du, ohne deine Waffen bist du immer noch unbesiegbar, weil dein Faustschlag genug der Zerstörung ist? Und wozu eine Rüstung, dein Körper ist doch auch ohne sie hart wie Stahl, nicht wahr?"
Ich starre voller Angst in die schwarzen, funkelnden Augen und beginne mit meinen eigenen Augen zu betteln. Stumm flehe ich ihn an, um mich zu kämpfen, damit ich mich endlich gegen ihn wehren kann, damit ich mich befreien und mein Leben zurückerobern kann. Damit ich meinen Eid halten, meinen Auftrag zu Ende bringen, zu ihm zurückkehren kann. Doch der Tod starrt mich nur an und setzt seine stumpfsinnige Rede erbarmungslos fort:
„Es wird Zeit, dass du begreifst, wozu du lebst, Chara. Wach auf! Es ist höchste Zeit, dass du erkennst, warum du leben musst, und dass es nicht egal ist. Dass nichts egal ist und nichts, was du tust, je egal sein wird. Wenn du begriffen hast, dass es einen guten Grund gibt, dass du lebst und dass du um deiner selbst willen kämpfen musst ... vielleicht bin ich dann wieder willens, um dich zu kämpfen."
Und dann verschwindet sein Gesicht unter mir und ich bin allein. Und ich bin am Ende, denn mir wird klar, dass ich verloren bin. Er hat vergessen, mir zu sagen, wie ich hier wieder rauskomme! Ich wusste noch nie, wie ich ein Problem lösen kann, ohne gegen etwas anzukämpfen. Ich muss gegen etwas oder jemanden kämpfen, um zu spüren, dass ich da, dass ich lebendig bin!
Wie kann ich mein Leben retten, wenn ich nicht gegen den Tod kämpfen kann? Gegen wen soll ich kämpfen, wen besiegen? Wo ist mein Gegner?
Doch dann, nach endlosen Augenblicken purer Verzweiflung spüre ich plötzlich meine Haut. Ich spüre den kalten Ozean, der mich umschließt und mich verschlingen will. Mein Körper meldet sich zu Wort und mein Verstand beginnt zu arbeiten. Er arbeitet sich durch die endlosen Welten des Wahnsinns, der ihn abzutöten droht. Er wühlt sich durch die vielen Schichten illusionärer Bilder, bis er an die Oberfläche dringt, bis er versteht, dass er sich in einem Körper befindet, der in den eisigen Wassern zugrunde geht, wenn niemand ihn rettet. Er versteht, dass er diesen Körper schnellstens hier raus ins Trockene bringen muss und ich begreife, dass mein Verstand Recht hat. Mir wird klar, dass ich in meinem Kopf gefangen bin und dass ich eine Chance habe, mich zu retten. Ich erkenne meinen Gegner, meinen realen, irrealen Gegner. Ich erkenne ihn in meinen inneren Stimmen, meinen irrationalen Fragen, meinen verworrenen Gedanken, die sich um Sinn und Unsinn drehen, um Wahr und Falsch, um Gut und Schlecht, um Leben und Tod.
Ich verstehe – mein Kampf ist ein Kampf gegen mich selbst. Meine Rettung liegt im Sieg über alles, was mich in mir selbst gefangen hält und mich zu meinem eigenen Feind macht. Alles, was ich tun muss, ist, aus meinem Kopf in die Wirklichkeit zurückzukehren.
Und ich beginne Arme und Beine zu bewegen und die kalten Wasser zu teilen. Ich beginne zu schwimmen.
Schweißgebadet wache ich auf und ringe nach Luft. Mein Herz rast, mein Atem geht stoßweise. Ich zittere so heftig, dass das Bett unter mir vibriert. Eine Weile höre ich auf meinen Herzschlag und versuche das Zittern zu unterdrücken und meinen Puls zu beruhigen. Schließlich richte ich mich auf und blicke auf die Matratze. Neben mir liegt der warme Körper des Elfen. Seine Brust hebt und senkt sich in regelmäßigen Abständen. Er atmet ruhig. Lindawen schläft den Schlaf der Gerechten. Er wird in seinen Träumen nicht von quälenden Fragen heimgesucht. Die Erschöpfung steht ihm immer noch ins Gesicht geschrieben, doch es ist eine wohltuende Erschöpfung, die ihn einlullt und einen kummerlosen Schlaf verspricht.
Ich lasse mich zurück auf das Kissen fallen und starre gegen die Decke der Kajüte.
Der Tod hat Recht.
Ich schließe die Augen und presse die Hand gegen meine linke Brusthälfte.
Es ist nicht egal. Nichts ist egal.
Siki Ka Tri Ida Di - Erste Prüfung
Wenn die Leute das Wort „Dämon" hören, versteifen sie sich. Wenn sie hören, dass jemand mit einem Dämon gemeinsame Sache macht, verfluchen sie ihn. Wenn sie einen Dämon sehen, nehmen sie ihre Beine in die Hand und rennen ... oder lassen sich auf ein Spielchen ein.
Aber die wenigsten haben sich je Gedanken darüber gemacht, was ein Dämon genau ist oder warum sie ihn so schrecklich finden.
Ein Dämon ist ein Wesen der Zwischenwelt. Hier in Amalea ist der Name „Dämon" zugleich ein Sammelbecken für unsere Ängste, unsere dunkelsten Fantasien, für das Unaussprechliche, das zutiefst Verruchte, das Böse schlechterdings. Der Dämon ist der Handlanger des Chaos. Wenn er in der Welt des Vergänglichen Gestalt annimmt, entpuppt er sich als Ausbund an Hässlichkeit (zumindest im Auge des üblichen Betrachters). Er ist unappetitlich. Und über Unappetitliches schweigt man bekanntlich.
Amalea ist eine Welt der Vielfalt. Es gibt hier so ziemlich alles, was in unserem geistigen Fassungsvermögen Platz findet, auch manches, das die Grenzen desselben sprengt. Die sonderbarsten Geschöpfe sind zugleich die, die man am seltensten zu Gesicht bekommt, darunter die Kentauren, die Drachen, die Werwölfe, die Vampire ... Sie werden in den Geschichtsbüchern und Aufzeichnungen der Gelehrten kaum erwähnt, in die Einwohnerzahlen der Länder Amaleas gar nicht erst miteinberechnet.
Die seltensten und faszinierendsten Geschöpfe (zumindest für mich) sind die Thanatanen. Aber dazu ein andermal mehr.
Die Dämonen ... Sie sind nicht hier und nicht dort und damit ebenso wenig ein Teil der Weltbevölkerung. Sie werden faktisch totgeschwiegen – ganz im Gegensatz zu den Göttern, die im Grunde dasselbe Dasein fristen wie ein Dämon. Auch sie sind weder in der Welt, noch außerhalb von ihr. Doch die Präsenz eines Gottes ist, im Gegensatz zu der eines Dämons, allgegenwärtig.
Es gibt sehr unterschiedliche Arten von Dämonen. Der Klassiker ist jener „Daimon", welchen man beschwören kann. Er steht im Bunde mit den Chaosgöttern, fungiert als Mittler zwischen selbigen und den Leuten, die sie anbeten und lässt sich mit den Sterblichen gerne auf einen Handel ein. Er ist sozusagen der Spieler unter den Wesen, die außerhalb von Raum und Zeit existieren. Es ist ein alter Hut, dass der, der mit einem Dämon verhandelt oder eine Wette abschließt, gewöhnlich den Kürzeren zieht. Gespielt wird trotzdem. Es geht dann eben nicht um Münzen, sondern ums nackte Überleben.
Der „Daimon" ist einer höheren Macht unterworfen. Er steht wie gesagt in den Diensten eines Gottes. Eine andere Gattung unter den Dämonen ist der Dämonenfürst. Er steht in der Hierarchie über dem „Daimon" und ist sein eigener Herr und Meister. Ich selbst war mit einem von ihnen auf Tuchfühlung (das meine ich nicht nur im sprichwörtlichen Sinn) und ich kann ganz lässig behaupten, dass mir dabei der Arsch auf Grundeis ging. Aber das war erst ein, zwei Jahre nach den Begebenheiten, auf die ich mich gerade beziehe.
Die letzte Art unter den Dämonen ist zugleich die subtilste. Subtil, weil wir in der Regel nicht begreifen, womit wir es eigentlich zu tun haben, obwohl wir längst dabei sind, mit dem Dämon zu tanzen, oder anders, längst mit ihm einen Handel eingegangen sind. Dieser Dämon ist wie seine Verwandten ein Wesen der Zwischenwelt. Man sieht ihn in der Regel nicht. Aber auch er kann Gestalt annehmen. Das wirklich Verzwickte daran ist, dass er, selbst, wenn er in Erscheinung tritt, für unser Auge nicht sichtbar ist, weil er das nicht im herkömmlichen Sinne tut – nein, wenn er im Begriff ist, sich zu materialisieren, sind wir bereits im Begriff, uns zu dematerialisieren. Denn dieser Dämon ist ein Teil von uns. Siki Ka Tri Ida Di – Das Tier in dir.
Das Volk, das den Siki Ka Tri Ida Di besser kennt als alle anderen Völker Amaleas ist das Volk der Goygoa. Es lebt auf einer Insel in einem Meer aus Inseln weit im Westen Aschrans – den Kabugna-Inseln. Die Goygoa haben über ihre schamanistischen Rituale einen Weg gefunden, mit dem „Tier" gemeinsame Sache zu machen. Sie nutzen es, setzen es als Schutzmechanismus ein. Damit konnten sie bis zum Jahre 342 nGF jeden Eindringling von ihrer Insel fernhalten. Das Jahr, von dem ich spreche, ist das Jahr, als wir unseren ersten Auftrag in den Diensten Al'Jebals in Angriff nahmen. Der Auftrag lautete: Findet die Goygoa und macht sie zu Verbündeten! Klingt einfach und wäre es auch, wenn man davon absieht, dass keine Menschenseele je einen Besuch auf der Insel dieses Volkes überlebt hat. Schuld daran ist der Beschützer der Goygoa, kurz „Siki", wie das Inselvolk ihn liebevoll nennt. Als wir mit der Aphrodia, einem Güldenmaid-Segler unter Al'Jebals Flagge, in See stachen, wussten wir nichts über Dämonen und schon gar nicht über solche, die mit den Mythen und Sagas nichts gemein hatten, die uns allenthalben über die Handlanger des Chaos zu Ohren gekommen waren. Siki war anders. Er war erschreckend animalisch und damit weltlich, ja geradezu natürlich in seiner Erscheinung und seinem Verhalten – beängstigend weil gewissenlos, keine Frage, aber eben einem Tier ähnlich und damit auch nichts Unnatürliches. Nur war Siki kein Tier! Und das Erschreckendste an ihm war nicht, was er tat, sondern, woher er kam. Denn so animalisch das Verhalten des Siki auch ist, so menschlich sind seine Wurzeln.
Als wir Fuß auf die Insel setzten, sahen wir zum ersten Mal das Ergebnis dessen, was der Siki der Goygoa anzurichten vermag. Selbst mir wurde beim Anblick der Überreste jener, die ihren letzten Atemstoß in die Fratze des Dämons geblasen hatten, übel. Und trotzdem, als ich Siki Auge in Auge gegenüberstand, spürte ich eine gewisse Art der Faszination. Diese Kreatur, dieser Dämon oder wie auch immer die anderen dazu sagten (ich hatte keinen Namen für das, was er war), war ein vollendetes Geschöpf, reduziert auf, oder besser abstrahiert bis hinunter zum Urtrieb, der uns allen innewohnt – dem Trieb zu überleben. Die Goygoa hatten einen Weg gefunden, diesen Urtrieb freizusetzen. Ich habe nicht die geringste Vorstellung davon, wie sie es gemacht haben, schon deshalb, weil ich mit Schamanismus nichts am Hut habe, aber sie taten es. Sie weckten Siki Ka Tri Ida Di, weckten den Trieb, der in jedem von uns steckt und machten das „Tier" zu ihrem Wachhund. Und sie hetzten ihren Wachhund auf uns ...
Ich will mich hier nicht in abgeschmackten Details unserer knisternden Begegnung mit dem Siki der Goygoa verlieren, zumal die ganze Geschichte ohnehin niedergeschrieben wurde. Ich kann nur nicht umhin, meiner Faszination Ausdruck zu verleihen.
Der schlimmste aller Dämonen ist nicht der Daimon, der uns mit scheinbar Unverzichtbarem zur Selbstvergessenheit und zum Spiel verführt, es ist auch nicht der Fürst, dessen Anblick alleine reicht, um ganze Männer zum Weinen zu bringen. Es ist die Bestie, die wir in uns tragen – tagtäglich! Es ist die Kreatur, deren niederem Dasein wir zu entsteigen versuchen, indem wir uns mit Werten, Normen, Idealen, mit Kultur und Bildung zieren, indem wir uns mit allerlei Tand schmücken, um unserer Menschlichkeit genüge zu tun. Und doch entkommen wir ihr nicht. Das beweisen wir jeden Tag. Wir beweisen es, wenn wir unseren Urtrieb in die Welt hinausschreien, indem wir alles, was nicht unser ist, und alle, die nicht wir sind, als Bedrohung auszuweisen versuchen – den Fremden, den anders Handelnden, den anders Gläubigen, den anders Arbeitenden, den anders Denkenden ... Weil wir Angst ums nackte Überleben haben! Weil wir Angst davor haben, unterzugehen!
Siki Ka Tri Ida Di kennt diese Angst. Sie ist sein Geburtsrecht. Mit ihr entsteigt er dem Gefäß, das ihn am Schweigen hält, wirft die Maskerade der Menschlichkeit ab und beginnt seinen blutigen Feldzug, dem jeder zum Opfer fällt, der zu einer Bedrohung werden könnte, weil er anders ist. Und dabei ist er vollendetes Geschöpf der Natur, ein perfektes Kampfnaturell, ein Raubtier, das nur an eines denkt – ans nackte Überleben!
In den Schriften der Gelehrten heißt es: „Das Chaos hat viele Gesichter. Es warnt in der Fratze eines Dämons, es befiehlt im Antlitz eines Gottes, es täuscht in den Masken der Menschen. Doch egal, welches Gesicht es zur Schau trägt, es findet sich stets dort, wo es einen Nährboden gibt.
Eine elfische Legende besagt, dass die Menschen es waren, die das Chaos in diese Welt brachten. Darin heißt es, der Mensch besitzt alles, was das Chaos zum Überleben braucht. Es heißt: Der Gott ist des Menschen Götzen, der Dämon des Menschen Freund.
Dort steht geschrieben: Wenn du das Chaos vernichten willst, befrei dich von dem Götzen über dir und bekämpfe den Dämon in dir!"
(Aus den Erzählungen der Philosophen Ikoniums)
Alba - Zweite Prüfung
„Wer keinen Namen sich erwarb, noch Edles je gewollt hat, gehört dem Staub der Welt an."
Der albische Adel schmiedete Ränke auf der Feste seines Namens! Ich folterte namenlos in der Schmiede seiner Festung.
Der albische Adel zog edel in den Kampf auf dem Schlachtfeld! Ich zog schlachtend durch die Reihen seiner edlen Kämpfer.
Der albische Adel ging mit Namen wie Adrian MacGythrun in die Geschichte ein. Ich schrieb mit Adrians Namen Geschichte.
Was unterscheidet den Handlanger vom Adel? JENER ist der Staub, auf dem DIESER seinen Thron errichtet, um JENEN zu vergessen. Damit jener Staub bleibt und dieser aus dem Staub erstehen kann.
Valianor - Letzte Prüfung
Mittlerweile haben sich die Metallfesseln an meinen Handgelenken ins Fleisch geschnitten.
Es blutet nur schwach, stockt, verkrustet, blutet erneut ... Metamorphosen des Lebens, ausgetragen von meinem Körper, der sich an seine Umgebung anpasst. Ich bekomme das nur nebenbei mit. Meine Konzentration richtet sich auf die beiden Männer am anderen Ende der Mauer. Meine ganze Aufmerksamkeit gilt Antonius Virgil Testaceus und seinem ehemaligen Freund und Helfer Thorn Gandir. Alles hängt jetzt von ihnen ab.
Kopf und Herz!, so lautet der Auftrag. Beides soll Al'Jebal als Beweis dienen, dass wir den Mord ausgeführt haben. Kopf und Herz ...
Wenn der Kopf versagt, entscheidet das Herz. Während ich, den Kampf meines Körpers ignorierend, den neuen Cäsarus und den alten Helden betrachte, während ich mir anhöre, wie der eine darum bettelt, dass der andere ihm glaubt, und der andere sich windet, weil er vertrauen will, aber kein Vertrauen fassen kann, wird mir klar, dass sie das sichere Terrain ihres Verstandes verlassen haben. Sie haben Angst – beide! Sie sind nichts als das pure Gefühl – das pure Verlangen danach, die Fäden fest im Griff zu behalten. Dabei spüren sie mit allen Sinnen, dass sie es längst nicht mehr in der Hand haben, dass die Fäden längst gekappt wurden. Beide bangen um ihr Leben! Und ich frage mich: Wieso zur Hölle hat der Cäsarus Angst?
Thorn? Sicher! Immerhin hängt er in Ketten und ist kurz davor, den Löffel abzugeben, jedenfalls, wenn er Testaceus von seiner Geschichte nicht überzeugen kann. Aber Testaceus? Ich spüre, dass der Cäsarus sich ausgeliefert fühlt, spüre, dass er so abhängig von Thorn ist wie Thorn von ihm, obwohl ihm der Waldläufer ganz und gar ausgeliefert ist. Warum? Warum hat Testaceus Angst?
Die Krusten aus eingetrocknetem Blut an meinen Handgelenken brechen erneut auf.
Ich habe mich bewegt, obwohl ich stillhalten hätte sollen.
Mir ist klar, dass ich mich ganz und gar auf meinen Teil des Auftrags konzentrieren muss, doch noch bin ich nicht soweit. Noch hockt Al'Jebals Botschaft an den Cäsarus des Valianischen Imperiums in einer Hinterkammer meines Gehirns und wartet artig darauf, dass ich sie rufe. Ich werde sie rufen – keine Frage! Aber erst, wenn die Zeit meiner Hinrichtung gekommen ist. Jetzt muss ich verstehen, was hier abgeht. Eigentlich kann es mir ja egal sein! Eigentlich geht es mich nichts an – ich bin eine Ibahie! Wozu verstehen, was keine Bedeutung hat ...
Ich bewege mich, obwohl ich stillhalten soll ...
„Warum vertraut dir Al'Jebal?", höre ich Testaceus fragen.
Die allesentscheidende Frage! Und ich bezweifle, dass Thorn eine Antwort darauf hat. Nicht einmal ich habe eine Antwort darauf. Ich kann es mir nur so erklären: Al'Jebal gibt vor, ihm zu vertrauen, weil er will, dass Thorn denkt, er würde ihm trauen. Irgendetwas hält den Namai davon ab, den Waldläufer zu töten. Irgendetwas scheint Al'Jebal noch mit ihm geplant zu haben. Was ist es?
„Beweg dich nicht, wenn du stillhalten sollst!"
Ja doch! Aber ich muss dieser einen Sache auf den Grund gehen ... jetzt! Dann konzentriere ich mich auf den Auftrag, sicher!
Thorn ist an einem Punkt, der auch mir nicht erspart bleiben wird. Das ist es, was mir zu denken gibt. Das ist es, worüber ich nachdenken muss.
Unser Leben ist ein beschissener Circulus Vitiosus! – Ein Kreislauf, der uns am Ende dort hinführt, wo wir mit Argumentieren begonnen haben. Wir bleiben in unseren Kinderschuhen stecken und haben keine Chance, ihnen zu entfliehen. Wir arbeiten ein Leben lang dafür, über uns selbst hinauszuwachsen und enden dort, wo wir begonnen haben. Hilflos waren wir im Kindbett, hilflos sind wir im Sterbebett. Mit dem, was wir unser Leben lang tun, womit wir uns ein Leben lang abmühen, beweisen wir das, was wir eigentlich widerlegen wollten. „Ich bin, was ich bin und kann nichts daran ändern."
Falsch, ich kann es ändern, aber dazu muss ich erst begriffen haben, was ich bin und mir eingestehen, dass dieses Was die einzig wahre Startlinie ist, von der aus ich aufbrechen kann und aufbrechen muss. Das Problem ist, dass wir gerne verleugnen, was wir sind. Und diese Lüge zwingt uns unweigerlich zur Wahrheit zurück. Sie zwingt uns zu jener Wahrheit zurück, mit der wir unser Leben begonnen haben. Du bist, was du bist. Wenn wir verleugnen, was wir sind, werden wir bleiben, was wir sind. Wir werden nichts daran ändern können – Ohnmacht! Wir können uns nicht entkommen!
Es ist wie mit den Dingen im Leben, die uns Angst machen. Wir werden versuchen, sie zu meiden, immer und immer wieder. Und eine Zeit lang wird es uns gelingen. Aber es wird der Tag kommen, an dem uns die Angst einholt, an dem wir mit dem Kopf voran in den Nachttopf gestoßen werden, in welchem wir unseren Abort so gewissenhaft isoliert und von uns ferngehalten haben. Was wir meiden, wird uns verfolgen und eines Tages wird es zu uns zurückkehren.
Dieser Tag ist heute. Jedenfalls für Thorn. Thorn ist exakt dort, wo er begonnen hat. Und hier, in diesem Kerker im Cäsarenpalast, bekommt er seine letzte Chance.
„Wenn es nun sein soll, dann lasst es sein wie es ist. Jeder ist dort, wo er sein muss ..."
Ich soll mich nicht bewegen? Dann halte ich eben still. Ich halte still und konzentriere mich auf meinen Auftrag, meine Startlinie, das, was ich bin und was mich in diese Welt geboren hat.
„... die einen werden leben, die anderen sterben, doch sterben werden wir alle ..."
Über die Wahrheit
Aus meinen privaten Aufzeichnungen vom Sedag, 1. Trideade im Wolfmond, 349 nGF
Man wird über mich lachen, aber entgegen all unseren bisherigen Überzeugungen ist die Welt eine Kugel!
Sie ist keine Scheibe. Ich weiß es, ich habe den Rand gesucht. Gefunden habe ich allerdings etwas anderes: Die Wahrheit ... die in Wirklichkeit keine sein kann.
Die Welt ist keine Scheibe.
Sie besitzt kein Oben, kein Unten. Da ist kein Anfang, kein Ende, kein linker oder rechter Rand. Es gibt keine zwei Seiten, von denen eine brauchbar, die andere unbrauchbar wäre, weder eine, die zum Himmel zeigt, noch eine, die über dem Abgrund schwebt. Diese Welt liefert uns kein Für oder Dagegen. Sie zeigt uns nicht, welche Seite Leben bedeutet und welche den Tod.
Die Welt ist keine Scheibe. Sie ist ein in sich geschlossenes, wohlgeformtes Rund – ein lebendes, dynamisches Ganzes, eine Kugel, die alles miteinschließt, was in einer Welt wie dieser existieren kann.
Da ist es nicht verwunderlich, dass wir mit offenem Mund innehalten, sobald es gilt, die Welt im Ganzen zu erfassen. Es ist nicht verwunderlich, dass wir zögern, sobald es eine Entscheidung zu treffen gilt. Es ist keine Frage, dass wir im Augenblick des Entscheidens mit weit aufgerissenen Augen auf die Vielfalt der Möglichkeiten starren, von denen keine besser als die andere ist, von denen keine als ausschließlich wahr oder ausschließlich falsch bezeichnet werden kann.
Denn in einer Welt wie dieser gibt es kein Wahr und Falsch. Es gibt keine Seite, auf der es sich leben lässt, und es gibt keine Seite, auf der ein Existieren unmöglich wäre. Es gibt keinen Rand, der uns die Gewissheit verleiht, dass wir fallen werden, sobald wir ihn überschreiten. Es gibt keine klaren Grenzen oder die echte, absolute Freiheit.
Denn diese Welt hat keine zwei Seiten. Sie hat überhaupt keine Seiten.
Es gibt nur ein Gesetz in dieser Welt, die keine Scheibe ist – den Wandel.
Es gibt nur einen wirkungsvollen Blickwinkel in einer Welt wie dieser, die keine simple, duale Sicht der Dinge zulässt – jene Perspektive, die so viel an Eindrücken zulässt, wie wir wahrzunehmen imstande sind. Wir können im Augenblick des Entscheidens nur den hilflosen Versuch starten, alles zu erkennen, was ist und um uns herum wirkt. Und während wir, von der Unzahl an Eindrücken geplättet, zu verstehen beginnen, dass wir unmöglich alles erwägen können, macht sich unsere Intuition bemerkbar.
Sie ist die Rettung aus der Verwirrung – ein fassbarer Hinweis in einem unfassbaren Gewirr von Halbwahrheiten und Fast–Erkenntnissen. Der Moment des intuitiven Erfühlens dessen, was die aktuelle Situation zu einer guten oder schlechten werden lässt, nährt sich aus allem, was wir bisher wahrgenommen haben.
Es gibt nur eine Wahrheit in einer Welt, die ein Wahr oder Falsch gar nicht zulässt (weil es definitiv keine zwei Seiten gibt) – jedes Urteil, das wir fällen, ist ein Urteil relativer Wertigkeit. Tatsächlich können wir nicht richtig oder falsch entscheiden. Das Fundament unserer Entscheidungen bilden die nebulösen Bereiche eines Zusammenspiels dessen, was wir wissen, was wir ahnen, was wir uns wünschen oder was wir befürchten. Das Fundament ist die subjektive Wahrnehmung im Augenblick des Erlebens, im Augenblick des Entscheidens.
Wir wissen es nicht. Wir wissen nicht, was richtig oder falsch ist, gut oder böse, sinnvoll oder unsinnig. Wir wissen es nicht. Niemand von uns – ob wir nun herrschend oder dienend sind, wegweisend oder gewiesen, kommandierend oder kommandiert.
Worin besteht die Bürde des Menschen und jeder anderen vernunftbegabten Gattung? Im freien Willen. Die Bürde liegt in der Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, die gerechtfertigt werden müssen, weil sie aus der Freiheit geboren wurden. Was diese Bürde erträglich macht, ist das Licht der Erkenntnis, von dem wir annehmen, dass es uns aus der dunklen Nacht des Zweifels in den lichten Morgen der Gewissheit führt.
Tja, wo ein Licht leuchtet, dort fällt zweifelsfrei auch ein Schatten. Und weil es ein Wahr oder Falsch nicht gibt, werden unsere Entscheidungen stets von beidem begleitet – Hell und Dunkel. Denn unsere Entscheidungen sind nie nur richtig und selten nur falsch. Meistens sind sie beides.
Wir haben Al'Jebal die Treue geschworen. Dies war unsere Entscheidung an einem Tag vor etwa acht Jahren. Es war einer dieser Momente, in denen uns die subjektive Wahrnehmung ein Urteil fällen ließ, das relativ richtig oder relativ falsch sein muss, aber in jedem Fall nicht die ultimative Lösung eines Problems darstellt, die es nicht gibt.
Wir haben entschieden. Wir standen im Innenhof der Piratenfestung in Billus und entschieden uns dafür, einem Mann zu folgen, der von der Welt für einen Chaosanhänger gehalten wird – jeder aus einem anderen Grund. Und jeder von uns führte damit eine vorläufige Lösung seines unmittelbaren Problems herbei.
Dass eine Entscheidung wie die, die wir trafen, ein Alles oder Nichts für uns bedeutete, ändert aber nichts daran, dass sie für den Rest genau genommen nichts bedeutet. Ob unsere Entscheidung sinnvoll war, kann sein oder auch nicht oder beides. Wie können wir es wissen? Wie hätten wir erwägen sollen, wie sich unser Treueeid auf andere auswirkt, auf Testaceus, auf Valianor, auf die Welt? Fakt ist, wir hatten keine Ahnung, und diese Tatsache belustigt mich.
Ja, da ist er wieder, der zynische Blick – das Drama, das mich zum Lachen reizt.
Als die Entscheidung fiel, durchströmte mich ein Gefühl bodenloser Erleichterung in der Gewissheit, dass ich die für mich beste aller Lösungen gefunden hatte. Doch als die Jahre vergingen, begann ich allmählich zu begreifen, dass ich nur eine Kette weiterer Probleme ausgelöst hatte, die einer Lösung bedurften – jedenfalls innerhalb meines kleinen Lebens.
Das ist die Ironie in einer Welt wie dieser – einer Welt, die keine Scheibe ist.
Warum wir an die ultimative Lösung glauben, ist so fraglich wie alle Taten, die wir begehen – schöne wie hässliche. Ob die Entscheidung, jemand zu retten, gut oder schlecht ist, wissen wir nicht. Ob die Entscheidung jemanden bluten zu lassen, ihn über die Klinge springen oder sterben zu lassen, gut oder schlecht ist, wissen wir nicht. Wir wissen nicht, ob wir gute oder schlechte Menschen sind, denn wir sind weder noch. Wir wissen nicht, ob wir wahre oder falsche Ideale vertreten, denn kein Ideal kann in irgendeiner Hinsicht als absolut bezeichnet werden. Also ist es weder noch.
Die Welt ist keine Scheibe. Es gibt keine zwei Seiten. Es gibt unendlich viele Seiten, unendlich viele Halbwahrheiten und ebenso viele Schein–Erkenntnisse.
Also, warum fragen? Warum zweifeln?
Bastard
„Menschen, die einander nicht verstehen, können einander nicht vertrauen." Manche würden noch weiter gehen und behaupten, man kann niemandem vertrauen, nicht einmal seinem engsten Freund. Aber je weniger wir von den Menschen wissen, mit denen wir uns den Tag, ein Jahr, ein Leben teilen, desto eher ist unser Vertrauen auf sandigem Grund gebaut. Je unverständlicher ein Mensch für uns ist - in allem, was er denkt, in allem, was er tut - desto mehr sollten wir vor ihm auf der Hut sein und mit unserem Vertrauen zurückhalten. Denn in der Fremde lauert die Gefahr und je fremder das Fremde desto unberechenbarer ist diese Gefahr. Was wir nicht kennen, was wir nicht verstehen, dessen Verhalten können wir nicht vorhersehen. Was wir nicht vorhersehen können, vermag uns jeder Zeit zu überraschen. Was uns überraschen kann, kann uns in einem überraschenden Moment leicht den Kopf kosten. Mit dem Vertrauen ist es wie mit einem Geschäft, dessen Ertrag die Kosten nicht deckt. Es kann einen in den Ruin treiben.
So dachte ich damals. So denke ich, teilweise auch heute noch. Bargh dachte anders. Ich bin mir sicher, dass sich zumindest irgendetwas in ihm dagegen sträubte, uns zu misstrauen. Immerhin nannte er uns "Freunde". Tat ich nie. Ich machte niemanden zu meinem Freund, nicht einmal Bargh oder Telos, jedenfalls nicht richtig. Was es mit Freundschaften auf sich hat, was ein Freund tut oder nicht tut, lernte ich erst später. Darum hatte ich ja auch keine Bedenken, diesen einfachen Befehl auszuführen, den Al'Jebal mir im Jahre 344 nGF übertrug. Ich hatte keine Bedenken ... aber ich hatte zum ersten Mal Skrupel.
Nur wollte ich hier eigentlich über Bargh reden und nicht über mich ... über sein vertrauensseliges Wesen, seine Neigung dazu, seine Mitstreiter zu Freunden zu machen und seine Herzensgüte.
War er so vertrauensselig? War er ein Freund? War er gut? Über Letzteres könnte man definitiv streiten. Bargh war nicht gut. Er war ein Freund, ja! Man konnte ihm vertrauen, ja! Für alle, an deren Seite er sein mächtiges Beil schwang, war er der Fels in der Brandung. Aber gut war er nicht.
Ich habe mich schon zu Beginn meiner privaten Ergüsse darüber ausgelassen, dass Bargh ein Krieger aus Leidenschaft war, ich behauptete sogar, dass ihm diese Leidenschaft zum Verhängnis werden würde. Und ich freue mich NICHT, hier behaupten zu können, dass ich Recht hatte. Weil es mich verdammt noch mal nicht freut, dass Barghs großes Herz zugleich für seine Herzlosigkeit verantwortlich war. Aber wir wissen ja längst, dass es mit der Liebe so eine Sache ist, dass sie, wie alles in dieser Welt, zwei Seiten hat, und dass nicht jeder, der liebt, zugleich ein Menschenfreund ist. Dabei lässt sich das Eine vom Anderen nicht trennen! Nur ein Menschfreund kann wahrhaft lieben – mit anderen Worten, jeder, der wahrhaft liebt, egal wen, muss zugleich die Menschheit lieben können. Alles andere ist Lug und Trug und nichts weiter als das manische Verlangen danach, einzufordern, ein Nehmen, ohne je gegeben zu haben. Der Menschenfeind schreit "Liebe mich!", weil er da draußen nur Übles sieht und sich ausgeliefert und verloren fühlt. Er hat vor allem und jedem Angst. Darum, und nur darum will er die Liebe. Doch er will sie nur für sich selbst. Wie kann er selbst dann lieben?
Ich schweife schon wieder ab. Das liegt vermutlich daran, dass ich mit meinem neuen Ich noch nicht ganz klar komme ... Es gäbe so Vieles, über das ich nachdenken müsste, so Vieles, das ich neu einzuordnen hätte, es gälte die Welt neu zu kategorisieren ... aber keine Zeit ... Keine Zeit!
Im Jahre 344 nGF war Bargh, wie wir alle, ein Mann Al'Jebals ... (Nur für die Archivalien - ich spreche gerne von mir als Mann und davon abgesehen hat es eine besondere Bedeutung, „Jemandes Mann" zu sein!) ... und wir waren es bereits seit drei Jahren. Jeder von uns hatte genug Zeit, um zu verstehen, was genau es hieß, Al'Jebals Ruf zu folgen. Bargh wurde allmählich bewusst, dass der Boden, auf dem er wandelte, verdammt heiß und das Ziel, dem er sich seit Jahren entgegenquälte, verflucht schwer zu erreichen war. Nicht, weil er mit Al'Jebals Interesse an Valland falsch gelegen hätte, sondern der Weg dorthin unerwartete Wendungen nahm. Da gab es zu viele Wenn-Dann-Faktoren, zu viele unberücksichtigte Eventualitäten – es gab Barghs „Freunde", die alle eigene Interessen verfolgten und sich andere Prioritäten setzten, es gab das Chaos, das alles, gelinde gesagt, ein wenig in Unordnung brachte, und dann gab es da diesen Gott, der keiner war und dennoch ein Spiel mit uns spielte, auf das wir uns unmöglich hätten vorbereiten können. Kurz, Bargh hätte nicht vorhersehen können, was ihm auf dem Weg zu seinem Ziel alles in die Quere kommen könnte. Und dass er seinen Freunden vertraute, machte die Sache für ihn nicht besser.
"Der Krieger Bargh Barrowsøn wurde am Cuindag, 1. Trideade im Bärenmond 315 nGF in Valland als Bastardsohn geboren. Neun Monde zuvor wird seine Mutter, die Fredin Britta Karlskogga – jüngste Tochter des Jarls Snorri Barrowsøn Karlskogga – von einer Gruppe Vallander, die sich auf Vidhingfahrt befinden, mehrfach vergewaltigt." (Aus den Archiven von Billus)
Was soll ich dem noch hinzufügen? Was will ein Mann, der unter diesen Umständen auf die Welt kam und ganz gewiss unter eben diesen Umständen lebenslang zu leiden hatte? Will er vertrauen? Will er Freunde? Oder will er etwas zerstören, um sich selbst neu erschaffen zu können?
Vermutlich will er alles. Aber egal, wie sehr er vertrauen will und egal, wie gut er darin ist, anderen ein Freund zu sein, er wird nichts so sehr wollen, wie seine Vergangenheit auszulöschen und seine Zukunft neu zu erschaffen. Und damit hat das Böse Zugriff auf ihn – zu jeder Zeit, an jedem Ort, in jeder wie auch immer gearteten Gesellschaft. Bargh war Licht und Bargh war Schatten. So wie wir alle!
Der Meister
Aus meinen privaten Aufzeichnungen vom Ceaddag, 1. Trideade im Draugmond, 348 nGF
„Weil der Meister es gebot, geriet die Waage aus dem Lot ... Die Wahrheit ist wie ein Fanal, sie leuchtet dir, du wirst sie sichten. Sie nicht zu sehen wär fatal. Siehst du sie nicht, wird sie dich richten."
Von welchem Meister ist hier die Rede? Von meinem, deinem, ihrem, unserem? Warum will ich das wissen? Warum jetzt?
Al'Jebal schweigt. Er schweigt und macht zugleich deutlich, was er weiß, und was er weiß, ist genug. Es ist schwer zu sagen, was er von meinen Fragen hält. Im Grunde ist es unmöglich auch nur zu erahnen, was in einem Kopf wie seinem vorgeht. Doch er wird wissen, worüber er spricht und worüber es sich zu schweigen lohnt. Denn über eines ist er sich voll und ganz im Klaren – sein Schweigen bringt uns in Bewegung, wie es kein Wort je vermag. Mit seinem Schweigen treibt er uns vor sich her wie der Sturm die Aphrodia, die sich dem Willen der Naturgewalten beugen muss, um sich über Wasser halten zu können.
Sein Schweigen brachte mich dazu, um mein Leben zu laufen, bis zum Stillstand meines Herzens zu kämpfen, es trieb mich dazu, mich um meinen Verstand zu reden und um meine Seele zu denken. Sein Schweigen peitschte die Stille in mir zu einem ohrenbetäubenden Unwetter auf, riss meine Gefühle aus ihrem Jahrhundert-Schlaf und machte mich zu einer springenden kleinen Marionette, die nichts so erbaulich findet, wie an den Fäden ihres Meisters ihre letzte Würde zu verlieren. In Al'Jebals Wortkargheit liegt die ganze Wahrheit meines Eids. In all dem, was ich NICHT von ihm weiß offenbart sich all das, was ich mir ERHOFFE.
In der Stille, die Al'Jebal umgibt liegt die Weisheit seiner Macht. Al'Jebal ist sich einer Sache bestens bewusst. Je weniger er von sich selbst zeigt, desto mehr eröffnet sich für alle anderen die Möglichkeit, ALLES in ihn hineinzuinterpretieren. Der Nichtsahnende füllt die Stille mit seinen Idealen und Ängsten. So wird die Gestalt Al'Jebal zum ominösesten und zugleich allumfassendsten Herrscherwesen Amaleas. Nicht nur ich fülle den blinden Fleck der Unwissenheit mit meinen Träumen. Das tun alle seine Untergebenen. Was sie nicht über ihn wissen, ist genau das, was sie sich von ihm erhoffen. Das absolute Ideal – das ist es, was er für viele seiner Leute sein muss. Sonst würden sie ihm nicht so bedingungslos folgen.
Und genau so verhält es sich auch mit seiner Assassinin. Al'Jebal bietet mir so wenig, dass das Wenige, das ich von ihm zu sehen bekomme, das Wenige, das er mich wissen lässt, die kaum erwähnenswerten Augenblicke einer tiefen doch abstrusen Nähe, Grund genug für mich sind, alles für ihn zu tun. Denn er wird mehr und mehr zu einem Mysterium, das man nur allzu gerne zur absoluten Weisheit erhebt. Wenn nicht ihn, wen dann? Es mag verschroben klingen, doch über andere machtvolle Wesen weiß man zu viel, um sie für der „Weisheit letzter Schluss" halten zu können.
Natürlich bin ich wie eh und je davon überzeugt, dass der Namai Alles ist. Aber ich hatte ja auch das einmalige Erlebnis, ihn in mir zu spüren – als erwachendes Leben, als Teil dessen, was ich bin, als das Unbekannte, das mich in mir schützt und gleichwohl gefangen hält. Ob er für irgendjemand anderen sein wird, was er für mich ist, bleibt fraglich.
Al'Jebal versteht es, seine Untergebenen blind zu machen. Seit Jahren folge ich einem Mann, den ich nicht kenne, einem Fremden, dessen Wege mir ebenso verborgen sind, wie seine Ziele. Ich diene ihm, weil ich etwas gesehen habe, das ich mir bis heute nicht erklären kann. Ein Blick und alles geriet ins Wanken – meine Ziele, meine Intentionen, meine gesamte beschissene Sicht der Welt!
Ein Blick und ich war nicht mehr die, die ich war.
Stattdessen fühlte ich plötzlich etwas. ICH – fühlte – plötzlich – etwas!
In meinem abgewrackten, vom Verstand beherrschten und getriebenen Körper regte sich tatsächlich ein Gefühl – kaum spürbar und für jeden anderen vermutlich nicht der Rede wert, doch für jemanden wie mich ... spektakulär!
Mit dem Gefühl kam die Schwäche als Resultat der Verletzlichkeit und der Hang, eigeninitiativ zu handeln. Doch das zeigte sich erst später und da war es dann zu spät.
Ich will nicht unbescheiden sein, aber ich wurde zu einer der treuesten Dienerinnen Al'Jebals. Denn ich habe nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen gewählt. Selbst Kerrim, einer der Besten seines Fachs und der wohl bedingungsloseste Gefolgsmann des Namai, kann sich lediglich auf seine Vernunft und seine Prägung berufen, wenn es um die Frage nach dem Grund seiner Ergebenheit geht.
Er wurde von Al'Jebal zu einem treuen Anhänger GEMACHT und steht offensichtlich aus Überzeugung hinter den Plänen seines Meisters. Doch seine Seele ist frei. Sein Geist offen. MEINE Seele ist unfrei, MEIN Geist verschlossen.
Chara geht restlos in Al'Jebal auf. Sie ist nichts unabhängig von ihrem Meister.
Ewiges Licht und ewige Verdammnis...
Das Licht, das mir seit meinem Treueschwur leuchtet, erklärt sich von selbst. Ich gehe restlos in meinem Meister auf. Darin liegt die Wahrhaftigkeit dessen, was ich tue. Ich bin mit dem Zweck meines Daseins eins. Ich tue, was ich tue, weil ich bin, was ich tue. Ich bin sein, nichts sonst.
Die Verdammnis, die Teil meines Treueschwurs wurde, ist viel schwerer zu erklären. Mit dem Versprechen, sein Eigentum zu sein, vergab ich meine Seele. Einmal, weil sie ohnehin ihm gehörte, das heißt, ich nicht darauf hoffen durfte, persönliche, von meinem Meister unabhängige Ziele zu haben – eigene Gefühle oder Ambitionen. Ein andermal, weil es gerade eben das persönliche Motiv war, das mich dazu trieb, ihm meine Seele zu überantworten. Nicht aus Pflichtgefühl, aus Prägung durch meine Ausbildung oder aus einem anderen vernünftigen Kriterium heraus. Mein Geschenk kam von Herzen! Der Wille zur Knechtschaft meiner Seele war eine gefühlsgeleitete Entscheidung.
An dieser Stelle beginnt die Geschichte meiner Verdammnis – ich wollte und will es immer noch. Ich will mehr sein, als nur seine Assassinin!
Lomond. Wäre der MacDragul nicht gewesen, hätte ich die Verdammnis nie gefühlt – dann wäre ich zufrieden damit, ein bloßes Werkzeug zu sein, und nichts hätte über mein Assassinen-Dasein hinaus etwas gewollt. Dann wäre mein Herz still und tot geblieben. Hätte Lomond mir nicht gezeigt, was sich alles in mir regt, ich wäre geblieben, was ich war – ein Sklave. Ein Sklave, dem das Gefühl der Verdammnis fremd ist.
Aber vielleicht tue ich Lomond auch unrecht. Mag sein, dass, wenn das Leben einmal erwacht ist, es ohne Halt gedeiht und irgendwann mehr braucht, als nur das Wasser, das ihm sein Überleben sichert. Das Leben in mir wuchs über mich hinaus. Lomond war nur der unverzichtbare Reiz für die Gier in mir, die längst nach mehr verlangte. Lomond war der Tropfen, der den Durst nicht löschte, sondern unerträglich machte. Ich musste ihn haben, weil ich Al'Jebal nicht haben konnte.
Schwachsinn! Ich wollte Lomond. Ich wollte ihn um seiner selbst willen. Ich wollte ihn schon, als er nachts an meinem Lager in Valland gestanden hatte. Marduk Lomond ist eine andere Geschichte. Er ist die Versuchung, der sich jemand wie ich nicht entziehen kann – Ein Totgeweihter, der nach Leben hechelt ist für eine lebendige Tote wie mich der Reiz des Verbotenen, der Reiz des Lebens, das ich ihm voraushatte, und doch nie voraushatte. Lomond war die Droge für mich, deren ekstatische Wirkung selbst das zähe Blut einer Leiche zum Kochen bringt.
Das ist Lomond. Und was er ist, hat nichts mit Al'Jebal zu tun.
Mein Leben für den einen.
Für den anderen Begehren.
So stehen sie nebeneinander, ohne einander zu berühren, und ohne dass der eine die Bedeutung des anderen entfremdet. Doch Lomond ist so verboten, wie Al'Jebal unerreichbar ist. Er in meinem Kopf lässt meinen Eid schwächeln, meinem restlosen Aufgehen in Al'Jebal einen Rest an Eigenmächtigkeit anheim fallen.
Mein Meister, dein Meister, ihr Meister, unser Meister ... Meister über die Ordnung, das Chaos, was auch immer!
Am Ende bleibt mir nur die Frage, die ich in mir trage, seit ich ihm das erste Mal begegnet bin – WER IST ER?
Und jene Frage, die ich mir nie hätte stellen sollen:
Kann jemand wie er jemanden wie mich ...
Der Gott, den ich gesehen habe ...
war ein sterblicher ... Er ging in den Tod, er besiegte den Tod und kehrte in die Welt der Lebenden zurück. Und doch, er war nicht unbezwingbar, würde es nie sein.
Das ist es, was ihn zu einem wie uns macht, zu einem Wesen der Sterblichkeit – einem Übermenschen, zweifelsohne, aber dennoch menschlich genug, um ihm Herr werden zu können. Und genau das muss ich! Irgendwie muss ich ihm Herr werden – ob nun, indem ich ihm eine Daseinsberechtigung einräume, oder indem ich ihn besiege. Denn heute ist er eine meiner größten Herausforderungen.
Als wir ihm das erste Mal begegneten, war er ein Mensch – durch und durch. Er war weder unsterblich, noch unbesiegbar. Gut, er war ein Prophet, und Propheten haben die Angewohnheit, über den Dingen zu stehen. Der Mann, von dem ich spreche, stand weit über allem. Und er hatte auch alles, was ein Prophet braucht – Weitblick, Weisheit und eine einzigartige innere Stärke. Aber davon abgesehen hatte er etwas, das man einem Propheten gemeinhin abspricht, jedenfalls wenn man ihn als Heiligen betrachtet – eine zutiefst menschenverachtende Moral. Er liebte die Zerstörung. Er war zuallererst an Macht interessiert. Nicht an irgendeiner profanen Macht, wie der eines Königs, Kaisers oder Imperators. Er wollte die absolute, die endgültige ... er wollte die göttliche Macht.
Im Jahre 344 nGF durfte ich miterleben, wie dieser Mann alles in den Schatten stellte, was ich je an Machtdemonstration gesehen hatte, und trotzdem weigerte ich mich anzuerkennen, dass es sich bei ihm um ein Wesen der Transzendenz handelte. Telos war da natürlich anderer Meinung, aber ich ließ mich nicht beirren. Als er mich danach fragte, was genau ich an jenem schicksalsschweren Tag gesehen hatte, als Amoravod von den Tulurrim angegriffen wurde - wie ihr Prophet ausgesehen, was genau er getan hatte, sagte ich:
„Er war nackt. Aus seinen Augenhöhlen quoll das Licht wie das der verfluchten Sonne. Die Leute begannen zu zählen! Als er sich auf das Stadttor zubewegte, zählten plötzlich alle. Als hätte jemand die Zeit angehalten ... als hätte die Welt aufgehört zu existieren! Alle warteten darauf, was er tun würde. Die Tulurrim machten den Moravi keine Angst mehr. Sie hatten nur noch Angst vor ihm, Angst davor, was er mit ihnen machen würde ... dieser nackte Mann, der aussah, als wäre er nicht von dieser Welt ... Er sagte: Ich bin die Sonne ..."
Ich fragte Telos, ob er ihn für einen Gott hielte. Natürlich glaubte er genau das.
„Ist er nicht", widersprach ich ihm. „Er ist von dieser Welt. Seine Macht demonstriert er hier in Amalea. Und er ist echt. Er ist aus Fleisch und Blut. Er ist kein Gott. Er ist das fleischgewordene Chaos, die pure Kraft der Zerstörung."
Das waren meine Worte und Telos hatte keine bessere Antwort für mich, als ein sorgenvolles Kopfschütteln. Dabei hatte er Recht! Hakkinen Dragati war kein Mensch! Er war auch kein Übermensch. Er war ein Gott! Und spätestens am Ende unserer Mission in Moravod war mir klar, dass Telos Recht hatte. Nicht nur das, ich wusste, dass die Götter, ob ich es nun wollte oder nicht, noch eine entscheidende Rolle in meinem Leben spielen würden.
Nein, ich huldige ihnen nicht! Aber ich habe damit begonnen, mein bisheriges Weltbild neu zusammenzusetzen und irgendetwas sagt mir, dass ich diese enervierende Prozedur noch einige Male wiederholen werde müssen. Heute jedenfalls finden sich in meiner Welt auch jene Wesen, die jenseits der verbrannten Erde Amaleas ihre Macht entfalten und sich die Menschen untertan machen.
„Sich die Menschen untertan machen ..." Genau dieser Gedanke ist es, mit dem ich mich jetzt, vier Jahre nach unserer Begegnung mit Hakkinen Dragati befassen muss. Denn in mir gärt diese haltlose Ahnung, dieses nachhaltige Gefühl, dass irgendetwas hier nicht stimmt, dass die Welt, wie wir sie sehen, nur deshalb so ist, wie wir denken, weil wir sie denken, bevor wir sie sehen. Kann es sein, dass die Götter diese Macht nur haben, weil wir sie in unseren kleinen Köpfen zum Absoluten erhoben haben und schlicht zu dämlich sind, ihnen ihre Macht zu entziehen? Was, wenn der Mensch den Gott ins Leben geboren hat und nicht umgekehrt? Was, wenn die Menschen damit aufhören würden, an die Götter zu glauben?
Sicher, diese Frage ist so gefährlich, als würde ein Assassine seinen Namai zum Zweikampf fordern. Was würde dann passieren? Der Mensch würde sich selbst zum Gott erheben. Er würde von einem Wesen der Schwäche zu einem Wesen des Absoluten aufsteigen, vom Menschen zum Übermenschen und damit beginnen, sich die Welt untertan zu machen, so wie es jetzt die Götter tun.
Aber tut er das nicht längst? Waren es nicht die Menschen, die sich über alle anderen Völker Amaleas gestellt haben? Waren nicht sie es, die vor Urzeiten damit begannen, die Elfen, die Zwerge, die Gnome, die Kentauren, die Echsenwesen und all die anderen nicht-menschlichen Rassen zurückzudrängen und zu unterjochen?
„Die Götter kamen mit den Menschen nach Amalea." Ich weiß nicht mehr, wo ich das gelesen oder gehört habe ... in den Geschichtsbüchern, in irgendwelchen Elfenlegenden, in den Schriften der Gelehrten Ikoniums ... Was ich aber weiß, ist, dass, wenn es wahr ist, dass die Götter mit den Menschen kamen, es auch wahr sein muss, dass der Mensch, der sich wie eine Krankheit in Amalea ausgebreitet hat, den Einfluss und die Macht der Götter initiierte – damals, vor vielen Jahrtausenden. Die Götter entfalteten mit uns Menschen als ihre Repräsentanten ihre Macht in unserer Welt. Sie übten diese Macht über jene aus, die ihnen auch heute noch huldigen. Was aber passiert, wenn wir ihnen abschwören? Hätten wir sie damit besiegt? Wären sie damit Geschichte? Und bräuchten wir dann andere Größen, denen wir huldigen können? Bräuchten wir einen anderen Götzen, an dem wir uns orientieren können? Vermutlich. Wir sind einfach zu viele und zu vielfältig, um uns selbst wegweisend sein zu können, auch wenn wir uns klare und einfache Systeme schafften, die in sich harmonieren. Selbst dann würde sich jedes System, jede Kultur einen Götzen suchen, um sich an ihm, seinen Idealen und seinen Werten zu orientieren. Warum? Weil wir wissen, dass wir begrenzt sind. Weil wir es fühlen, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen. Weil wir voller Zweifel und Selbstzweifel sind. Vielleicht aber auch, weil wir spüren, dass da mehr ist, als die Welt, die uns tagtäglich umgibt – mehr als wir, mehr als die, mehr als das, mehr als alles, das wir je gesehen oder gefühlt haben.
Als Hakkinen Dragati in Gestalt des Propheten Hadra im Lager der Tulurrim vor unseren Käfig trat, wusste ich nichts über ihn oder seine Ambitionen. Aber ich spürte eine Sache ganz deutlich – ich spürte Al'Jebal. Und das lag nicht daran, dass der Namai für jemanden wie mich immer und überall präsent ist. Es lag einzig und allein an der Tatsache, dass Dragati etwas hatte, das auch Al'Jebal hatte. Es gab eine Gemeinsamkeit zwischen dem Propheten und meinem Abgott. Ich konnte nur nicht sagen, was es war.
Ich habe nie an Götter geglaubt. Ich habe den Göttern nie gehuldigt. Heute glaube ich an ihre Existenz. Huldige ich ihnen deshalb? Niemals!
Erstens, weil ich glaube, dass ihre Macht eine Macht des Scheins ist.
Und zweitens, weil ich nur einem je gehuldigt habe und nur einem je huldigen werde.
Heute glaube ich an die Götter. Ich glaube an die Götter, weil ich an die Menschheit glaube.
Leider wäre der Mensch gern ein Gott.
Vom Biss der Viper
„Es ist immer etwas Wahnsinn in der Liebe, es ist aber auch immer etwas Vernunft im Wahnsinn!" (*)
Es war nicht die Art wie er redete oder schwieg. Es war nicht die Art, wie er sich bewegte. Es war auch nicht die Art, wie er kämpfte. Es war die Art, wie er mich ansah. Er wollte mich! Mich will man aber nicht! Das hat mich erschüttert! Damit hat er mich kalt erwischt. Das war es, was mich ein Jahr später dazu bewog, mich neu zu erfinden. Ein Blick, ein Ruck, ein Scheidepunkt!
Man muss noch Chaos in sich haben, um zu Asche zu verbrennen. Doch muss man die Liebe kennen, um aus der Asche zu erstehen.
Für die, die mich kennen, mag es bizarr klingen, doch bevor ich Marduk Lomond MacDragul traf, war ich frei von Chaos. Frei davon, aber doch auch fasziniert von seiner alle Grenzen sprengenden Macht! Das war es, was mich die Begegnung mit Hakkinen Dragati und seinen Famuli lehrte. Ich war die pure Ordnung, begehrte es aber, Chaos zu sein. Fakt ist, da war schon immer ein kleiner Herd in mir, in dem das Chaos glomm, doch ich ließ nicht zu, dass es Feuer fing – daher auch meine unerwarteten, unkontrollierbaren Ausbrüche, daher meine Unberechenbarkeit. Was wir am Schweigen halten, wird sich Gehör verschaffen. Und weil wir sein Flehen nicht hören wollen, wird sein Schrei uns überraschen, ja nahezu taub machen. Abgesehen von diesem Herd aus purem Chaos, war ich pure Ordnung. Ich war von geordnetem Verstand, wohl strukturiertem Körperbau, und geradlinigen Handlungen. Ich wusste, was ich bin, was ich will, und was ich tue. Ich hatte mein klares Prinzip und keine Skrupel in der Ausübung meiner Pflichten als Assassinin. Würde Telos diese Zeilen lesen, er würde mich für verrückt erklären. Aber es ist die Wahrheit. Ich war ganz und gar ein Wesen der Ordnung.
Das Chaos kam erst später. Es kam mit dem Entschluss, mich in das Feuer zu werfen. Ich warf mich in die Flamme des „Ich verliere mich, um mich zu finden". Ich ließ Chara, die Assassinin verbrennen, um als Chara, der Mensch zu mir zu kommen. Als diese Entscheidung fiel, war ich bereit, das Unkontrollierbare zu akzeptieren, mich auf etwas einzulassen, das sich meinem Einfluss entzog. Ich ließ mich auf den Fremden aus Alba ein, wohl wissend, dass ich die Konsequenzen nicht würde steuern, meine Zukunft nicht mehr würde vorhersehen können. Ich ließ mich auf ihn ein, um zu erwachen – als denkendes UND fühlendes Wesen – als Ordnung UND Chaos.
Die Ordnung ist beides – gut und übel. Ich bin der lebende Beweis dafür. Ich war Ordnung, doch meine Taten waren übel.
Wie aber sieht es mit dem Chaos aus?
Man soll meinetwegen Steine nach mir werfen – ich weiß, es ist die Welt des Gefühls, in dessen komplexer Dynamik sich das Chaos verbirgt. Das Gefühl ist seiner Natur nach Chaos und weil Gefühle nicht böse sind, ist es auch das Chaos nicht, zumindest nicht per se. Aber die Natürlichkeit des schlichten Fühlens kann in einer Widernatürlichkeit resultieren. Denn was tun wir, wenn wir fühlen? Wir empfinden Glück und empfinden Leid. Wenn wir beides gefühlt haben, werden wir erkennen, dass uns das Leid abstößt und das Glück anzieht. Sobald uns diese Erkenntnis ereilt, beginnen wir zu BEGEHREN, genauer, wir begehren das Glück. Und in jenem Augenblick, da wir begehren, offenbart sich des Chaos hässliche Gestalt, weil sich die Natur des „guten Chaos" in eine Widernatur des „schlechten Chaos" verwandelt. Das Begehren, das in unseren Ohren so unschuldig klingt, wird unseren Zerstörungstrieb wecken, und zwar dann, wenn wir nicht bekommen, was wir begehren. Die Widernatürlichkeit des Chaos beginnt mit dem Begehren und gipfelt in blinder Zerstörungswut, einer Neigung, die zum mächtigsten aller Kriegsmotive werden kann: Wir wollen nichts am Leben lassen, das nicht unser ist. Nichts soll da sein, das uns nicht gehört!
Das Gefühl ist der Quell des Chaos, die Liebe die Vorbotin des Begehrs und letzteres entlarvt das Chaos in seiner Widernatürlichkeit! Wenn das Gefühl zur Liebe erwacht, ist der Mensch im seltensten Falle reif und weise genug, um mit der Liebe umzugehen, kurz, die wahre Liebe zu leben, die alle Menschen gleichermaßen umfängt und sich nicht nur auf einen besonderen Menschen richtet, den wir begehren und den wir für unser eigenes Wohl beanspruchen wollen. Die Liebe ist die Mutter des Chaos, der Hass der Sohn, den die Liebe gebiert, wenn sie unerfüllt bleibt. Der Hass ist nichts anderes als das Resultat einer unerfüllten Liebe. Wer hasst, der nicht zuvor geliebt hat?
Die Liebe versetzt unsere Seele in Schwingung, entfesselt die SEHNSUCHT, das BEGEHREN, das WOLLEN.
Die SEHNSUCHT treibt unser Ich aus uns selbst hinaus, um uns auf die Suche nach einem „Wir" zu schicken.
Das BEGEHREN wird uns zur Triebfeder, das Ersehnte auch zu finden.
Das WOLLEN ist des Begehrens Gipfel. Es ist die Entscheidung, das Ersehnte einzufordern.
Ab dem Begehren beginnt das „gute" Chaos sich in ein „schlechtes" zu verwandeln und wird zum Urheber jedweder Form der Zerstörung. Das Chaos beginnt sein Dasein, sobald wir beginnen zu fühlen. Beginnen wir zu lieben, ohne der wahren Liebe gewachsen zu sein, beginnt es zu zerstören. Das Chaos als Zustand ist zu respektieren. Das Chaos als Wirkung, als aktive Form der Zerstörung, ist zu bekämpfen.
Dragati zeigte mir, was das Chaos anrichten kann. "Sufrim Lof – Sufrim Hat – Fuatha chos do niu fat!" - Ein albisches Zitat, das übersetzt in etwa bedeutet: Größtmögliche Liebe – größtmöglicher Hass – (dies ist) die göttliche Wahl für ein neues Schicksal (oder auch Verhängnis).
Was mich zurück zum Propheten Hadra bringt, auch bekannt als Finstermagier Hakkinen Dragati. Ich sah etwas in ihm, was ich in mir fühlte, aber nicht erkannte. Deshalb konnte ich mich Jahre später dem Reiz nicht entziehen, seinen Söhnen ein Stück näher zu rücken. Dragati zeigte mir jene Wahrheit über das Chaos, die mit dem Wesen des Gefühls unmittelbar zusammenhing.
Im Chaos als Äußerung der Liebe verbirgt sich der Wahnsinn, der dem Begehren entspringt und sich in Ekstase verlieren kann. Ekstase ist die größtmögliche Intensität gegensätzlicher Gefühle zum selben Zeitpunkt – für einen normalen Menschen eine Gefühlsmischung, die er unmöglich ertragen kann, weil sie den Verstand, weil sie die Ordnung des logischen Gesetzes gänzlich außer Kraft setzt. Der Verstand kann mit Gegensätzlichem, Widersprüchlichem nicht arbeiten, das Gefühl aber schon. Das ist der Grund, warum das Gefühl mit dem Prinzip des Chaos untrennbar verbunden ist. Für jemanden wie Dragati, so wie er damals am Ende seines Propheten-Daseins war, war dieser paradoxe Gefühlszustand, der Zustand der Ekstase, vielleicht das letzte und einzige, das er noch spüren konnte.
Ein Mensch wie ich, kennt die Liebe, wird sie aber nicht erkennen. Ich war immer der Überzeugung, dass die Liebe keinen Zugriff auf mich hat, weil da nichts in mir war, worin sie hätte wurzeln können. Ich beging den größten Fehler, den ein Mensch begehen kann – Ich vergaß, dass ich ein Mensch bin!
Als Marduk Lomond mich heimsuchte, war ich unvorbereitet. Ich war unvorbereitet, weil ich erstens dachte, die Liebe hätte keinen Zugriff auf mich, weil ich zweitens der Meinung war, dass es keinerlei Grund für jemanden gäbe, mich zu wollen oder gar zu lieben und weil mir drittens nicht bewusst war, dass Macht eine unendliche Anziehung auf mich ausübte. Nicht die Macht, die man für sich selbst in Anspruch nehmen will, sondern die Macht, die einen selbst in die Ohnmacht zwingt. Ich war mein Leben lang ohnmächtig – als Straßenkind, als Assassinin, als ein Instrument Al'Jebals. Damit war die Macht oder der Mächtige eine Art Zuhause für mich. Er war mir Vater, Mutter, Namai. Ich hätte mich nie auf einen Mann eingelassen, der mir nicht das Wasser reichen konnte. Es musste jemand sein, der mir an Kraft und Mächtigkeit weit überlegen war, damit ich in meiner vertrauten Ohnmacht verbleiben konnte. Und es musste jemand sein, der mich um meiner selbst willen wollte, weil dies das einzige war, das mich erschüttern konnte. Beide Kriterien erfüllte Marduk Lomond MacDragul.
Ich sah die Schlange nicht kommen. Ich fühlte nur ihren Biss. Danach blieb mir lediglich der Versuch, ein Antiserum gegen das Gift zu entwickeln, das sich in meinem Körper langsam entfaltete. Denn ich war beileibe noch nicht weise genug, um wahrhaftig zu lieben. Und damit hatte das Chaos Zugriff auf mich.
"Wir lieben das Leben nicht, weil wir das Leben, sondern weil wir die Liebe lieben."
(*) aus "Also sprach Zarathustra" von Friedrich Nietzsche
Das Problem mit der Freundschaft
Wir haben uns erst nach dem ganzen Irrsinn im Lager der Tulurrim darüber unterhalten – Bargh und ich. Mir war klar, dass er mich noch darauf ansprechen würde. Immerhin hätte ich ihm, salopp formuliert, fast den Schädel eingeschlagen. Was ich aber nicht erwartet hatte – Er wollte es ganz genau wissen!
Ich hatte mich aufs Achterdeck der Aphrodia verzogen. Normalerweise bin ich gerne am Vordeck, aber das hatte der heilige Mann okkupiert und Saddhu Malakal war, wie immer, nackt. Das war nicht so mein Ding. Darum musste es an diesem Tag das Heck sein. Ich hatte es mir gerade bequem gemacht – an die Reling gelehnt, Beine ausgestreckt, Pfeife stopfend – da polterte Bargh über das Poopdeck die Treppe hoch. Zur Abwechslung trug er mal keine Waffen. Selbst sein Kettenhemd hatte er in seiner Kajüte gelassen. Es war auch ziemlich heiß – glaube ich jedenfalls. Wenn ich mich recht erinnere, hatten wir Sommer, oder Herbst, vielleicht auch Frühling – Jahreszeiten, Klimaverhältnisse ... diese Dinge bleiben bei mir nicht hängen, ebenso wenig wie Jahreszahlen oder genaue Daten. Was wie wo und warum passiert ist, merke ich mir. Gerüche, Farben, Gesichter, Details wie blutige Wunden, Dreck oder Gestank – das alles bleibt mir im Kopf, aber welches Wetter wir hatten, ob es kalt war oder heiß – keine Ahnung!
An diesem Tag schwitzte ich auf jeden Fall, ich kann nur nicht mit Sicherheit sagen, ob der Schweiß an meinen Schläfen dem Wetter geschuldet war.
Bargh kam in knielanger, bis zum Bauchnabel offener Tunika die Treppe hoch und hatte einen ungewohnt ernsten Ausdruck auf dem Gesicht. Ich hatte gerade das Hatschmana im Pfeifenkopf zum Glühen gebracht, da ging er auch schon in die Knie und ich zog rasch meine Beine ein. Er hätte sich glatt auf mich draufgesetzt! Jedenfalls befjürchtete ich das. Tatsächlich hockte er sich nur hin und sah mich aus seinen großen grauen Augen an. Normalerweise hätte mich das nervös gemacht, aber weil ich wusste, dass Bargh kein Typ für „Lange Reden - kurzer Sinn" war, blieb ich entspannt. Und während ich mich noch fragte, ob wohl das Gegenteil auf ihn zutraf, „Kurze Rede - langer Sinn", fing er schon an, mir sein Herz auszuschütten, oder versuchte es zumindest.
„Äh ..." Das war seine Standardeinleitung. Meistens kam nicht mehr viel hinterher. Meistens!
„Hab da mal über diese Sache nachgedacht ... du weißt schon ..."
Ich hatte natürlich keine Ahnung. Aber mir war auch klar, dass Bargh das sagen musste. Es war seine Art, mich in seine Welt einzubeziehen. Eine nichtssagende Redewendung, die soviel mehr zu sagen hatte, als der erste Eindruck erweckte – Du und ich, wir beide wissen Bescheid! Das war es, was er damit zum Ausdruck bringen wollte. Das war seine Art, mir klar zu machen, dass wir Freunde waren, quasi unter einer Decke steckten! „Du weißt schon ..."
Ich stopfte mir den Holm in den Mund und gönnte mir einen tiefen Zug. Bis Bargh die richtigen Worte gefunden hatte, konnte ich mich getrost noch eine Weile mit den Fakten rund um die Tulurrim beschäftigen.
„Das, was da in Amoravod gelaufen ist ... im Gasthaus ... bevor wir gefangen genommen wurden ..."
Ende der Auszeit.
„Was willst du mir sagen, Bargh?", versuchte ich die Angelegenheit zu beschleunigen. Er hatte tatsächlich den Mumm, mir bis jetzt in die Augen zu sehen. Aber nun, da wir zum Kern des Gesprächs vordrangen, waren die Planken unter seinen Stiefeln plötzlich attraktiver. Mir war das ganz recht. Auch für mich war es alles andere als prickelnd, dass er ausgerechnet dieses Thema zur Sprache brachte. Noch hatte ich keinen Plan, was ich sagen konnte, um es ihm klar zu machen. Und es war offensichtlich, dass er genau das wollte – eine Erklärung für mein und Telos' Verhalten.
Bargh setzte sich hin, überkreuzte seine von der Sonne goldbraunen Beine und stützte sich mit den Ellbogen auf seine muskulösen Schenkel. Sein zerzaustes Kupferhaar fiel ihm vors Gesicht – schirmte seine grauen Augen ab ... machte die Sache einfacher für mich.
„Wieso habt ihr beide mich angegriffen?!", quoll es jetzt förmlich aus ihm raus. „Ich weiß schon, dass ihr nich' ganz bei euch ward und dass dieser dämliche Traum schuld daran war, aber Langeladeon hat's auch nich' erwischt. Auf ihn hat der Traum nich' abgefärbt! Auf mich auch nich'! Warum auf dich und Telos? Warum ausgerechnet auf ihn?"
„Soll was genau heißen? Telos, der Gute, ist immun gegen das Chaos?"
„Das hab ich zumindest gedacht."
Oh Bargh! Deine Ehrlichkeit ist geradezu erfrischend!
Genau das mochte ich an dem Vallander. Er sagte es geradeheraus: Telos kann unmöglich vom Chaos verführt worden sein. Bei mir ... nun ja ... da sah die Sache anders aus.
„Da hast du dich wohl in Telos geirrt", versuchte ich den Spieß umzudrehen. Gib ihm etwas zum nachdenken, dann vergisst er, was er dich fragen wollte. Nur leider funktionierte das nicht immer. Bargh war in Fahrt. Er wollte es wissen – jetzt, hier und ganz genau!
„Was hast du gefühlt, als du mich angegriffen hast, Chara?"
Scheiße!
„Frag doch Telos? Er ist es, bei dem du es am Wenigsten verstehst?"
„Ich will's aber von dir wissen!"
Ich hatte aber keine Antwort. Falsch ... ich hatte schon eine, aber die war einfach nur ... krank. Ich konnte ihm schwerlich sagen, dass ich es irgendwie witzig fand, dass es mich irgendwie erregt hat – die Vorstellung, ihn bluten zu lassen ... ihn über die Klinge springen zu lassen, mich selbst bluten zu sehen ... irgendetwas kaputt zu schlagen ...
Ich war die Zahl, die sich nur durch sich selbst teilen lässt ... Das Chaosmoment ...
Wie, bei allen Dämonen, sollte ich ihm DAS erklären?
Bargh hatte seine wunderschönen grauen Augen wieder auf mein Gesicht geheftet. Er hatte sich sogar seine Haare hinters Ohr geklemmt, damit ich sie besser sehen konnte. Herzlichen Dank!
Ich nahm noch einen intensiven Zug aus meiner Pfeife und blies ihm den Rauch ins Gesicht. Es kümmerte ihn nicht, aber für mich war es damit leichter, seinen Blick abzuschotten ... mich allein und sicher zu fühlen, ihn nicht sehen zu müssen, mich rauszunehmen ...
„Da war dieser Traum ...", begann ich ziemlich unbeholfen.
„Ja ja, das weiß ich!", ging er dazwischen.
„Nein, Bargh, das weißt du eben nicht! Keine Ahnung, wie das bei dir angekommen ist, aber ich hatte das Gefühl, sämtliche Hüllen fallen zu lassen. Klingt scheiße, war es aber nicht! Das ist es ja gerade! Genau genommen war es ein verdammt gutes Gefühl! Ich war noch nie nackt, wenn du verstehst, was ich meine!"
Er verstand es natürlich nicht. Wie sollte er auch? Ich redete wirres, zusammenhangloses Zeug. Nackt? Welcher Dämon ritt mich da eigentlich gerade?
Barghs verwirrter Gesichtsausdruck drängte mich zu einem neuen Versuch. Mir war zwar nicht klar, warum, aber irgendwie wollte ich mich rechtfertigen. Es lag an ihm. Bei jedem anderen hätte ich gesagt: Zieh Leine!
„Schau, Bargh. Ich bin nicht wie du, oder Telos, oder Thorn. Ich hab mich ziemlich viel damit beschäftigt, gar nicht erst da zu sein. Das heißt aber, dass ich das eine oder andere unterdrücken muss. Wir unterdrücken keine Gedanken, sondern ..." Ich wollte das Wort erst gar nicht aussprechen, aber Barghs plötzliche Stille, sein ehrliches Interesse, die höllisch großen Augen ... ließen mich weitermachen ... „... Gefühle. Wir unterdrücken Gefühle. Das machen wir, damit wir funktionieren, jedenfalls ist das bei mir so. Und ich schätze, genau darauf hat der Traum abgezielt. Er hat mich mit dem Kopf voran in das Loch gestoßen, in dem ich das, was ich unterdrücke ... also meine ... Gefühle ... eingekerkert habe. Er lockte mich raus, wenn du so willst."
Barghs ad hoc schmal werdende Augen sagten mir, dass ich gerade das Falsche gesagt hatte.
„Willst du mir weismachen, du bist im tiefsten Herzen das, was du warst, nachdem du aufgewacht bist? Du bist eigentlich die Chara, die mir mit ihrer Waffe fast den Schädel gespalten hätte?"
„Nein!" Oder etwa doch? Nein, ganz und gar, nein! Das war ich nicht. Es war nur ein Teil von mir – ein winziger, aber mächtiger Teil. So war das, und genau das sagte ich auch Bargh.
„... und dieser Teil wurde von dem Traum geweckt, sodass ich ganz und gar ... na eben der Teil war. Ich war ..." Ich konnte es nicht besser ausdrücken ... „das Chaos in mir."
„Ich dachte, du wärst nur skrupellos", sagte er seltsam nachdenklich.
Ich starrte ihn an – womöglich sogar fassungslos. Entweder war Bargh noch intelligenter, als ich bis jetzt schon vermutet hatte, oder er wusste nicht, was er da redete. Jeder andere hätte gesagt: Dann warst du also skrupellos ... Um klarzustellen, dass der, der sich dem Chaos hingab, zugleich skrupellos sein musste. Bargh aber hatte es anders gesagt. Er sagte: „Ich dachte, du wärst nur skrupellos." Er hatte verstanden, dass jemand, der das Chaos in sich zu Wort kommen ließ, niemals einfach nur skrupellos sein kann. Der Skrupellose empfindet nichts, wenn er schlimme Dinge tut, wenn er mordet, foltert, quält. Er tut es, um sein Ziel zu erreichen. Er hat keine Moral. Aber er ist nicht unbedingt böse. Genau genommen ist er der Ordnung viel näher als dem Chaos, weil er einem Plan folgt. Bargh hatte Recht. Ich war skrupellos und damit gar nicht imstande, wirklich etwas zu fühlen bei allem, was ich tat. Ich tat es ja nur, um meinen Auftrag auszuführen, um meinem Zweck gerecht zu werden.
„Sieht so aus, als wäre ich nicht nur das", griff ich seine Feststellung auf. „Ich bin nicht nur skrupellos. Da ist auch etwas in mir, das fühlen will. Ich stopfe ihm halt so gut es geht das Maul. Aber manchmal ... manchmal bricht es aus mir raus. Meistens als Zorn. Den Zorn kann ich am ehesten zulassen, mit dem komme ich am einfachsten klar."
Plötzlich ging mir ein Licht auf. Das war es! Das war der Punkt! Der Traum hatte mich auf den Grund meines Ichs hinabgezogen, an jenen Ort, wo ich beides bin – Verstand UND Gefühl. Aber weil man die schlechten Gefühle leichter an die Oberfläche bringen kann als die guten, ist eben genau das passiert. Das Chaos, der Traum ...
‚Hallo, ich bin Ärger ...'
Ich schob mir die Pfeife in den Mundwinkel und studierte Barghs Gesicht. Jetzt hatte er mich neugierig gemacht – der Vallander, der so gar nicht dämlich war.
„Was denkst du, ist mit Telos passiert?", fragte ich.
Er zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich dasselbe wie mit dir. Auch wenn ich's nich' versteh. Nich' bei ihm."
Wieder diese Ehrlichkeit! Wäre ich nicht so verdammt frigide, es hätte mich glatt betroffen gemacht. Hätte es mich getroffen, hätte ich geantwortet: „Weißt du, manche heulen, andere bevorzugen eben die Klinge. Du hättest vermutlich geheult." Eine ziemlich peinliche Retourkutsche – schwach und aggressiv. Was bin ich froh, dass ich frigide bin!
„Bargh ..." Ich spürte, dass ich ihn trösten wollte – noch peinlicher! „... ich wollte dich nicht angreifen! Ich hatte mich nicht im Griff!"
„Du hättest den Wirten angreifen können! Wieso mich?"
Ah, darum ging's ihm also! Er wollte mir vertrauen. Und nach allem, was passiert war, wusste er nicht mehr wie.
„Du hast den Fettsack zuerst angegriffen", spielte ich den Ball zurück.
„Weil er Langeladeon vermöbeln wollte."
„Kann sein, aber du hattest den Kerl bereits am Boden, als ich in den Kampf eingegriffen habe. Du warst einfach der nächstbeste Gegner. Es ging mir nicht darum, in wen ich meine Waffe versenke, es ging nur darum, dass ich sie versenken wollte." Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. „Du hast mir den halben Arm weggefetzt, Bargh!"
„Und du hast das toll gefunden!"
„Stimmt. Genau darum geht es ja. Ich wollte nur etwas ... spüren. Egal was! Je exzessiver, desto besser."
Plötzlich ging ein Grinsen um seine, für einen Mann ziemlich sinnlichen Lippen.
„Du willst was spüren?", lächelte er. „Mann, Chara, das kannst du echt leichter haben!"
Ich ahnte, was er vorhatte ... hob die Hand – wollte ihn mir damit vom Leib halten. Es half nur nichts.
Seine Hand ging ebenfalls hoch. Und ich saß zwischen ihm und der Reling fest.
„Nicht das!", fauchte ich ihn förmlich an. Aber er tat es! Er strich mir einfach über die Wange! Dieser verrückte Bastard!
„Was denn, spürst du das nich'?", fragte er und sein Grinsen verschwand. „Ist das nicht besser, als zu bluten?"
Ich zog den Kopf zurück. Er ging wieder auf Abstand. Als ich mich in Sicherheit wähnte, zog ich die Pfeife aus dem Mund.
„Das war ein ganz hinterfotziger Angriff, Bargh", knurrte ich ihn an.
„Ja, kann sein. So wie deiner." Ein Räuspern, dann wurde es still. Jetzt war auch Bargh verlegen. Ich sah ihn zwar nicht an, weil ich ihn am Liebsten geschlagen hätte und mich vor einer weiteren Dummheit bewahren wollte. Aber ich konnte es fühlen. Es lag in der Luft. Wir waren beide verlegen. Wie ich das hasste!
„Weißt du, ich und Telos, wir mögen dich", fand er schließlich seine Stimme wieder.
„Das hast du schon mal gesagt."
„Und du willst es nich' verstehen."
„Ich hab's Telos schon erklärt. Freundschaft ist für mich ein Ding der Unmöglichkeit. Was, wenn ich euch irgendwann umbringen muss. Hast du darüber schon mal nachgedacht?"
Er biss sich auf die Unterlippe. „So was kann passieren. Aber bis dahin kann man trotzdem befreundet sein."
„Das mag ein Opfer so sehen, aber nicht der Täter. Würdest du auch nur einen Gedanken daran verschwenden, dass du es bist, der den Mord durchziehen müsstest, würdest du das nicht sagen. Du würdest wissen, dass jedes Gefühl, das dich an dein Opfer bindet, verhindern wird, dass du den Mord ausführst. Du würdest wissen, dass du nur dann skrupellos sein kannst, wenn dir nichts und niemand etwas bedeutet."
Bargh sah mich an. Da war dieser traurige Glanz, den man hin und wieder in seinen Augen zu sehen bekam.
„Ich glaub', ich versteh dich."
Ich glaubte ihm sogar, dass er das glaubte. Womöglich verstand er mich wirklich. Wenn ja, dann war es das erste Mal, dass mich jemand verstand, der nicht wie ich war. Einen kurzen Moment lang fühlte ich etwas wie eine Verbindung zwischen uns. Einen Lidschlag später hatte ich das Gefühl abgeschüttelt. Jetzt konnte ich ihm wieder in die Augen sehen.
„Das war wirklich mies, Bargh", sagte ich, aber da war kein Groll mehr in meiner Stimme.
Das Grinsen kehrte in Barghs Gesicht zurück und er boxte mich in die Seite.
„Ich weiß. Aber jetzt sind wir wenigstens quitt."
Ein leises Seufzen, dann stand er auf.
„War'n gutes Gespräch", brummte er.
„Frag mich morgen noch mal, dann kann ich dir sagen, ob ich das auch so sehe."
Er schenkte mir ein letztes Lächeln. Dann polterte er die Treppe zurück nach unten.
Ich dachte nach. Aber an diesem Tag kam ich auf keine befriedigenden Ergebnisse mehr. Nur auf das eine: Bargh war in Ordnung. Er war mir sympathisch. Mein Freund konnte er dennoch nicht werden.
Wer ist Thorn Gandir?
„Der, der an sich zweifelt, wird ein leichtes Opfer für den, der nicht an sich zweifelt."
Es ist ein Unterschied, ob man an sich zweifelt, oder ob man sich selbst einem kritischen Blick unterzieht, um Fehler zu erkennen. Wer an sich zweifelt, bewegt sich auf unstetem Grund. Wer sich selbst kritisch betrachtet, tut dies von einem sicheren Standort aus – er kennt sich und weiß, wo möglicherweise seine Makel zu finden sind, er weiß aber auch, wo seine Stärken liegen. Nur wenn man seine Stärken kennt, ist man überhaupt dazu fähig, über seine Schwäche klaren Verstandes nachzudenken.
Thorn war ein Zweifler. Er war nie sicher, worin seine Stärke bestand, oder anders, er war sich seiner Stärke nie gewiss. Darum machten ihm seine Schwächen Angst. Das machte ihn zu einem unsteten Geist, einem ängstlichen Sucher, der stets nur in der Welt da draußen nach der Wahrheit fahndet, aber niemals in seinem Inneren. Es machte ihn zu einem Kreisel, der sich stetig um sich selbst dreht, ohne je eine Balance zu finden. Hätte sich Thorn ernsthaft danach gefragt, wer er war, hätte er auch seinen Weg oder seinen Platz in diesem verrückten Krieg der Extreme gefunden. Wo gehen wir hin – am Scheidepunkt zwischen Chaos und Ordnung, Verstand und Herz, Innen und Außen, Gut und Böse? Welche Schattierung zwischen Schwarz und Weiß ist unsere, wo kommen wir zu uns, wo nach Hause? Wenn wir wissen, wo wir zu Hause, wo wir ganz bei uns sind, kennen wir auch den Ausgangsort für die Veränderung, die wir an uns selbst vollziehen werden.
Wir machen aus dem, was wir sind, das, was wir sein wollen.
Aber wenn wir unseren Startpunkt nicht kennen, wie sollen wir dann unser Ziel erreichen? Wenn ich nicht weiß, wo ich stehe, wie soll ich dann wissen, in welche Richtung ich laufen muss?
Thorn Gandirs Prüfung bestand nicht darin, Al'Jebals Prüfungen zu bestehen, sie bestand darin, den Selbstzweifel abzulegen, der ihn schlussendlich an ALLEM zweifeln ließ und es ihm unmöglich machte, den Weg zum Ziel zu erkennen. Thorn kannte seine Ziele, er wusste aber nichts über seine Ausgangssituation, weil er nichts über sich selbst wusste und sich stets nur gefragt hat, wie die Welt um ihn herum aussah, oder wie die Leute waren, mit denen er zu tun gehabt hatte – ob sie gut oder böse waren, ob er ihnen vertrauen konnte oder nicht, ob sie ihn liebten oder hassten ... Es ist aber zweifelsohne unmöglich, das Außen ganz und gar zu erkennen, das Fremde mit Gewissheit zu entlarven. Wir können nur uns selbst erkennen, können sich nur unserer selbst sicher sein. Machen wir aber das Selbst am Fremden fest, stehen und fallen wir mit dem, was um uns herum passiert. Dann verkörpern wir stets nur eine „Beziehung-Zu", nie aber ein „Sein-Im". Dann sind wir nichts weiter als das „Dann" im „Wenn-Dann". Wir sollten aber das Wenn sein. Genau das ist es, worin Thorns Konflikt bestand. Er war die Wirkung einer Ursache, aber niemals Ursache einer Wirkung – jedenfalls für sich selbst. Was er tat, bewirkte natürlich etwas in der Welt. Aber in ihm selbst bewirkte nur die Welt etwas und nicht er selbst.
Welch geniales Opfer für einen Mann wie Sören Lestrang, Augur im Dienste Testaceus, Spion der Anderen Seite! Lestrang verstand sehr gut, dass Thorn der geniale „Empfänger" war. Der Elfenfreund war wie ein Kieselstein, den man gezielt werfen konnte, um genau jene Ringe auf der Wasseroberfläche hervorzurufen, welche die gewünschten Wellen erzeugten. Man konnte ihn beliebig werfen, weil er sich gegen keine Richtung sträuben würde. Und er sträubte sich deshalb nicht, weil er sich nie klar darüber geworden war, welche Richtung seine war. Sören Lestrang hatte KEINE Zweifel an sich selbst. Der Augur wusste genau, was er wollte, wer er war und was er leisten konnte. Damit wurde er zu Thorns Orientierungspunkt, zum Leitfaden für einen Menschen, der seine Sicherheit in der Sicherheit des ihn umgebenden Fremden suchte. Was die anderen aus Überzeugung wussten, war für Thorn richtungsweisend, weil er selbst NICHTS aus Überzeugung wusste.
Nach unseren Erlebnissen in den Käfigen im Lager der Tulurrim, war Thorn innerlich so roh, nackt und wund wie ein aus dem Nest geworfenes Küken. Sören Lestrang baute ihm ein Nest aus allem, wonach Thorn sich sehnte. Die Falle schnappte zu. Der Rest ist Geschichte ...
Ich bin fertig. Ich bin ausgelaugt und müde. Davon, alles hinterfragen zu müssen, davon, meine „Macher" zu studieren und zu analysieren, aber vor allem davon, mich selbst zu suchen. Ich wünschte, ich hätte mich längst gefunden, so, wie ich damals dachte, dass es der Fall sei. Es war eine Illusion. Ich dachte, ich wüsste, wer ich bin und wohin ich gehörte. Heute weiß ich, dass ich es nie wusste. Ich wünschte – jedenfalls heute ... jedenfalls manchmal – da draußen gäbe es jemanden, der MICH suchte, der mich entlarvte, der mir sagte, worin genau MEINE Prüfung besteht. Jemanden, der mir all das vor Augen führte, was ICH nicht weiß. Zugleich ist mir klar, dass ich jeden, der mir meine Larve vom Gesicht zu reißen versuchte, mit dem Gesicht an die Wand stellen würde.
Die weiße Rose - Teil Eins
Wenn man nackt, mit dem Bauch voran über der Kante einer Treppe liegt, dann spürt man in allen Facetten, wie sich der Begriff Grenze anfühlen kann. Wenn man begreift, dass die schmale Kante, die sich in aller Deutlichkeit in das eigene Fleisch schneidet, eine Grenze zwischen Leben und Tod zieht, wird die Entscheidung, die man trifft, eine Kampfansage sein. Wenn man weiß, dass man in eben diesem Moment nur überlebt, indem man die Grenze überschreitet, wird man es sich nicht zweimal überlegen. Denn wenn alles so ist, wie hier geschildert, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Werde Opfer oder werde Täter. Und diese Entscheidung entscheidet nicht nur darüber, ob du lebst oder stirbst, sie entscheidet darüber, was du den Rest deines Lebens sein wirst. Opfer oder Täter. Das Eine wird dich lähmen, das Andere unbesiegbar machen.
Opfer sterben immer, Täter sterben nie. Wir entscheiden uns für oder gegen den Kampf und damit entscheiden wir darüber, ob wir sterbend oder ob wir lebend durch diese Welt gehen.
Ich habe diese Entscheidung getroffen. Seither gelte ich als skrupellos.
Mein Name ist Chara. Ich arbeite für einen Mann Namens Al'Jebal. Die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, heißt Agyra, die Welt, in die ich geboren wurde, Amalea. Dies ist der Beginn meiner Geschichte. Und der Beginn meiner Geschichte ist zugleich der Dreh- und Angelpunkt für das, was ich danach sein werde.
Meine Geschichte beginnt an jenem Tag, da ich meinen ersten Mord verübte. Der Wind pfiff durch die schmalen Gassen meiner Heimatstadt, als wollte er die Hafengegend vom Dreck der Obdachlosen befreien. Die Kälte war einzigartig – feucht und unerschrocken hockte sie unter dem Brückenbogen, der mein Zuhause war. Sie schien sich nicht daran zu stören, dass die Klimazone Chryseias für winterliche Temperaturen ungeeignet war. Vielmehr fühlte sie sich am Kai so heimelig wie ich mich hätte fühlen sollen.
An besagtem Tag war ich weder unter meiner Brücke noch am Kai. An besagtem Tag war ich gut drauf. Ich war ... ja eigentlich war ich euphorisch. Ich hatte es geschafft, einem Händler vier Feigen, einen Laib Brot und einen Kohlkopf abzuluchsen und war mir ziemlich sicher, dass mein Ziehvater seine Fäuste zur Abwechslung mal in den Hosentaschen belassen würde. Tomein würde zufrieden sein, wenigstens heute. Er war mir Mutter und Vater zugleich, er war Fürsorge und Lehrsatz in einem. Er war mir ein guter Mentor. Seine Faust ebenso wie sein Bemühen, mein Leben zu schützen.
Ich war zwölf. Ich war anders als die Mädchen meines Alters. Ich war ein Sonderling. Das lag nicht etwa daran, dass ich schon damals die Welt mit anderen Augen sah. Ich unterschied mich im Denken nicht erwähnenswert von den restlichen Mädchen. Der Unterschied lag in meiner äußeren Erscheinung. Ich war flach wie ein Brett, blass, hager und Tomein sorgte dafür, dass meine Haare nie länger wurden als ein Finger breit war, um, wie er es immer betonte, „das dreckige Dutzend von uns fern zu halten" (gemeint hatte er Läuse und anderes Ungeziefer). Um es auf den Punkt zu bringen – Ich sah aus wie ein Junge.
Meine Kindheit habe ich im Großen und Ganzen in guter Erinnerung. Jedenfalls ab dem Zeitpunkt, da ich meinen ersten Mord beging.
Ich war auf dem Weg vom Marktplatz zum Hafen, stiefelte in bester Laune die schmale Gasse entlang, die über ein paar Abzweigungen direkt auf Höhe der Brücke in den Kai mündete. Über meiner Schulter hing der Leinensack, in dem ich mein Diebesgut verstaut hatte, pendelte bei jedem meiner Schritte hin und her. Ich spürte sein Gewicht, seine Fülle, spürte den Geschmack von Triumph auf meiner Zunge. Und weil ich die am kärglichsten bevölkerten Gassen genommen hatte, war ich guter Dinge, dass ich vor etwaigen Übergriffen sicher sein würde.
Obdachlose, die jeden Tag ums nackte Überleben kämpfen, haben keinen Anstand – das liegt auf der Hand. Unter unseresgleichen ist es nicht abwegig, dass der eine dem anderen sein Mittagessen aus dem Mund stiehlt, sofern letzterer nicht schnell genug schluckt. Indes, ich hatte gelernt zu laufen. Darin war ich einmalig. Darin war ich quasi unbesiegbar. Es war auch das Einzige, worin ich tatsächlich eine passable Leistung brachte.
Wenn ich mich recht erinnere, pfiff ich ein Liedchen ... Ja ja! Ich pfiff laut vor mich hin, so sicher war ich mir, dass dieser Tag nur Erfreuliches für mich bereithielt, und auf eine bizarre Weise lag ich sogar richtig damit. Der kalte Wind war mir im besten Falle erfrischend und im schlimmsten Falle eine Verzerrung der Melodie, die ich in die Gasse pfiff.
Die Kälte nahm ich kaum wahr. Das Knarzen von Stiefeln auf den Kieselsteinen nur wenige Schritte hinter mir hörte ich nicht, das schleifende Geräusch, das eine Klinge verursacht, wenn sie aus einer Scheide gezogen wird, ebenso wenig. Ich war eben gut drauf!
„He, Mädchen!"
Die Klangfarbe der Stimme irritierte mich. Schlagartig blieb ich stehen. Leider war ich zu gut drauf, um die Stimme zu ignorieren und einfach loszulaufen. Stattdessen drehte ich mich um. Aus Neugier? Aus einer unbewussten Neigung heraus, die Gefahr zu suchen? Ich weiß es nicht mehr.
Jedenfalls sah ich die drei Männer. Sie standen nebeneinander in der schmalen Gasse, hatten sich hinter mir aufgebaut wie eine lebende Mauer. Ich sah sie, nahm aber nicht wahr, dass sie mir gefährlich werden konnten. Der, der mich angesprochen hatte, trug einen verdreckten Schafsledermantel; eines seiner Ohrläppchen war von einem Metallring durchbohrt. Er hatte mittellanges verheddertes Haar und silbrig-graue Bartstoppeln, die sich in lückenhafter Unregelmäßigkeit über seine Wangen verteilten. Seine Hände hinter dem Rücken gefaltet tastete er mit raubtierhaftem Blick meinen Körper ab.
„Komm her!", sagte er und mir wurde klar, dass er der Anführer war. In seiner beachtlichen Größe stellte er die anderen beiden deutlich in den Schatten. Die anderen waren kleiner, jeder auf seine Weise hässlich, der eine fett, der andere schmal. Er selbst war breit gebaut, aber nicht fett und trug, soweit ich es damals beurteilen konnte, ein charismatisches Mienenspiel im Gesicht. Zwar war sein Grinsen so schmierig wie meine Haare, aber er wirkte auf eine gerissene Weise intelligent.
„Na los!", verlieh er seinen Worten Nachdruck und das Grinsen in seinem Gesicht erlosch. Stattdessen kicherte einer seiner beiden Kumpel albern. Es war der, dessen Leinenweste zu knapp bemessen war, um den über den Hosenbund quellenden Bauch in Schach zu halten, was halbwegs albern aussah. Es war nur der falsche Zeitpunkt, ihm diese Tatsache vor Augen zu führen.
Ich hatte mir schnell ausgerechnet, wie wahrscheinlich ich am Ende dieser Begegnung meine Beute noch besaß, sollte ich der Aufforderung Folge leisten. Darum fiel die Entscheidung schnell. Noch bevor einer der drei etwas nachsetzen konnte, hatte ich mich umgedreht und meine Beine in die Hand genommen. Ich rannte, als wäre das Chaos selbst hinter mir her. Schon mit den ersten Schritten kehrte die Euphorie zurück und ich dachte daran, dass ich Tomein heute gleich zwei geniale Geschichten auftischen konnte.
Keine Chance! Die Kerle hatten keine Chance, mich einzuholen! Zu groß, zu dick, zu unbeholfen!
Allein, die Tatsache, dass ich schneller war als sie, änderte nichts daran, dass sie mich einholten. In dem Augenblick, als meine Euphorie in einem Gefühl des Triumphes gipfelte, hörte ich ein leises Sirren hinter mir und einen Lidschlag später blockierte mein Kniegelenk. Ich stolperte und krachte in vollem Lauf auf die Pflastersteine. Ein hässlicher Schmerz durchzuckte mich vom Knie aufwärts, arbeitete sich wummernd über meinen Oberschenkel, bis er mir heiß in den Bauch fuhr. Ich biss mir auf die Unterlippe und tastete nach meinem Bein. Meine Finger stießen gegen einen Holzgriff – ein weiterer glühender Schmerz züngelte meinen Schenkel hoch. Alles klar! In meinem Kniegelenk steckte ein Wurfmesser.
„Guter Schuss!", kläffte der Fette, während ich nur noch eines denken konnte: Dämlich! Wie dämlich, sich überhaupt umzudrehen! Wie bescheuert, ein Liedchen zu pfeifen, wenn man gerade seine Beute nach Hause bringt! Scheiße, ich hatte nicht das Geringste gelernt! Ich hatte ... In einem Anflug unangebrachter Selbstüberschätzung griff ich nach dem Leinensack, der mir bei meinem Sturz von der Schulter gerutscht war und riss ihn an mich. Meine Beute!
Herzallerliebst! Vor allem angesichts meiner drei Gegner, die mich alle zumindest um einen Kopf überragten. Verzweiflung ist eine Sache, sie zur Triebfeder werden zu lassen eine ganz andere. Ich war zu sehr darauf fixiert, meinen Erfolg mit Tomein zu teilen, um die eigentliche Gefahr zu erkennen. Jene Gefahr, die gerade in legere Gelassenheit auf mich zuschlenderte. In diesem Moment zählte es nicht mehr, ob mein Ziehvater stolz auf mich sein würde. Es zählte nur noch, wie ich mit dem Leben davonkam. Das war mir bewusst, doch nicht so richtig klar. Noch war die Enttäuschung darüber, dass ich als Diebin versagt hatte, größer. Noch wollte ich Tomein unbedingt etwas beweisen. Noch!
Ich presste den Leinensack an mich und überlegte fieberhaft, wie ich aus dieser Misere herauskam. Da trat der Große vor mich hin.
„Bitte!", stammelte ich, doch weiter kam ich nicht. Ich spürte einen Schlag in die Magengrube, der mir die Luft aus den Lungen presste. Im nächsten Moment krachte eine Faust in mein Gesicht und ich kippte samt Leinensack auf den Rücken. Eine Fontäne Blut spritzte sprühregengleich über die Pflastersteine. Meine Augen folgten ihr. Das Blut hinterließ eine interessante Musterung in attraktivem Rotton auf den grauen Steinen. Ich sah genau hin, so, als könnte ich aus der Struktur der Tröpfchen eine Lösung für mein Problem lesen. Vielleicht sah ich aber auch nur hin, weil ich meinen Gegner nicht sehen wollte.
Erst einige Atemzüge später folgte der Schmerz. Der Schlag hatte mir zweifelsohne die Nase gebrochen. In meinem Kopf begann es wild zu hämmern, hinter meinen Augen saß ein unsichtbarer Wicht, der mir sein Zahnstocherschwert in aufdringlicher Rhythmik ins Hirn rammte, meine Ellenbogen waren aufgeschürft, in meinem Kniegelenk steckte noch immer das Messer, das der Schweinesack in meinem Fleisch versenkt hatte. Ich war ganz klar im Arsch. Und warum? Weil ich zu gut drauf war, um die Tatsachen zu sehen!
„So, du kleines Luder! Du tust jetzt genau das, was ich dir sage!" Der Große riss mir das Bündel aus den Armen und drückte es dem Fettsack in die Hand. „Aufstehen!", bellte er und grinste wölfisch, als er mir dabei zusah, wie ich mich stöhnend aufsetzte und zu ihm hochschielte.
„Das Messer!"
Ich dachte nach, entschied dann aber eiligst, dass eine Weigerung verdammt unklug wäre. Vorsichtig umfasste ich den Griff der Klinge. Schon bei der geringsten Berührung verschärfte sich das Wummern in meinem Bein und ich spürte, wie mir die Magensäure bitter die Speiseröhre hochkroch. Ich biss die Zähne zusammen und packte zu. Ein Ruck, dann hatte ich das Messer aus meiner Kniebeuge gerissen. Während ich es in die dreckige Hand drückte, die sich mir entgegenstreckte, spürte ich, wie Tränen aus meinen Augenwinkeln schossen. Gereizt wischte ich sie fort.
Das war's. Sie hatten ihr Messer, die Beute und meine Demütigung. Mehr konnte ich ihnen nicht bieten ...
Oh wie naiv! Einfältig und naiv! Ich war so ... so ... na so ein Mädchen eben!
Ich sah das lüsterne Grinsen nicht, das die beiden Männer im Hintergrund ihre faulen Zähne blecken ließ. Auch nahm ich nicht wahr, wie mich ihr Anführer von Kopf bis Fuß taxierte. Erst, nachdem ich mich auf die Beine gekämpft und er mich hochgerissen hatte, erst, als er mich wie einen Sack über seine Schulter warf, dämmerte mir, dass wir noch ganz am Anfang standen.
„Lasst mich gehen", bat ich leise aber bestimmt. „Ihr habt, was ihr wolltet!"
„Richtig. Aber noch hatten wir keinen Spaß damit."
Eine neue Welle der Übelkeit schoss meine Speiseröhre hoch und brandete gegen meine Kehle. Keine Ahnung, ob wegen des leisen Verdachts, der sich in mir breitzumachen begann, oder weil mir alles wehtat.
„Ich bin noch keine Frau!", sagte ich fast bockig und ohne mir wirklich klar zu sein, weshalb mir das weiterhelfen sollte.
„Du bist eine kleine Schlampe! Du weißt es bloß noch nicht! Aber keine Sorge, ich werde dir zeigen, was ich meine."
Ich schloss die Augen. Scheiße!, zuckte es durch meinen Schädel. Scheiße verdammte!
Ja, ich hatte nie das Gefühl, dass ich es verdient hätte, am Leben zu sein. Und ja, es sprach nichts dafür, dass jemand wie ich je irgendeine Bedeutung haben würde und damit war ich entbehrlich, nein, überflüssig! Aber jetzt, hier ... Ich wollte nicht sterben! Und ich wollte diesen Männern auf keinen Fall ausgeliefert sein!
Mein Kopf pendelte bei jedem seiner Schritte gegen seinen Rücken. Der Schmerz war, angeheizt durch das Blut, das mir in den Schädel schoss, unerträglich geworden. Aber ich verblieb nicht lange in meiner unbequemen Haltung, die mich, einem Mehlsack gleich, von den Schultern dieses Fremden baumeln ließ. Kurz, nachdem er mit mir und seinen beiden zahmdreisten Kötern losmarschiert war, zerrte er mich von seiner Schulter und warf mich auf die Straße.
„Und jetzt zieh dich aus!"
„Auf keinen Fall!", flüsterte ich. Meine Stimme versagte. Ich schüttelte trotzig den Kopf, in der Hoffnung, die Geste würde einen entscheidenden Beitrag leisten. Fehlanzeige!
„Du willst nicht?", knurrte er.
„Mann, reiß ihr die Klamotten doch einfach runter, Andares!", maulte der Fette. Sein zu dünn geratener Kumpel sah das genauso. Er brachte jedenfalls zum ersten Mal seinen Mund auf.
„Eben!", lautete sein intelligenter Kommentar. Dabei kaute er inbrünstig auf einem Lorbeerblatt herum. Es sah aus, als wäre das seine Hauptbeschäftigung. Lorbeeren in hoher Dosis vernebeln einem die Sinne. Das hatte mir Tomein beigebracht.
Der Mann, den sie Andares nannten, winkte ab. „Macht ihr das, Jungs! Ich schau mir das Ganze lieber an!" Ein niederträchtiges Grinsen hob seine Mundwinkel. Er spuckte auf die Straße und machte es sich auf einer Treppe bequem, die zu einer ausrangierten Taverne hochführte. Dann fuhr er seine langen Beine aus und das Grinsen in seinem Gesicht arbeitete sich zu einem strahlenden Höhepunkt vor.
Während der Fette auf mich zuhielt, begannen meine Augen fieberhaft die Umgebung zu studieren.
Die Gasse, in die mich die Kerle gebracht hatten, war noch schmäler als jene, die zum Hafen führte. Links und rechts von mir ragten die zum Teil längst verfallenen Häuserfronten jäh in den Himmel, eng und unbelebt. Kein Schwein würde hier vorbeikommen, wenn überhaupt, dann jemand meines Schlags, und der würde sich einen Dreck darum kümmern, was hier mit mir passierte.
Da war diese Treppe, die zu einer bereits geschlossenen und verbarrikadierten Taverne hochführte. Das Schild darüber, das sich kreischend im Wind wiegte, präsentierte eine Blume mit weißen Blütenblättern. Darüber stand in chryseischen Lettern: Taverne zur Weißen Rose.
Hübscher Name, tänzelte es lieblich durch meinen Kopf. Wenn er nicht so unendlich geschmacklos wäre!
Dann stand der Fette hinter mir. Noch während er mich packte und mir die Arme auf den Rücken bog, ging ihm sein hagerer Kumpel zur Hand. Er trat vor mich hin, riss mir die Beine unter dem Körper weg und schälte sie aus meinen Hosen. Kurz darauf lag ich mit dem Bauch voran über der Treppe, die zum Eingang der Taverne hochführte. Andares hatte mir freizügig Platz gemacht. Er stand jetzt hinter mir. Ich konnte spüren, wie er lächelte, auch wenn ich es nicht sah. Die Weiße Rose schaukelte über mir im Wind und sang kreischend ihr Lied. Ich mochte keine Blumen. Ich mochte sie noch nie. Das würde sich ändern. Eines Tages sollte ich ein besonderes Faible für Rosen entwickeln, für schwarze und weiße. Wie dem auch sei ...
Ich wagte es nicht, aufzustehen oder mich auch nur umzudrehen. Aus den Augenwinkeln bekam ich mit, dass ein mir bekannter Obdachloser an uns vorüberflanierte. Ich registrierte, dass er ein spöttisches Lächeln auf den Lippen trug. Nachvollziehbar! Immerhin hatte ich ihn vor nicht allzu langer Zeit als sabbernden alten Sack bezeichnet, bevor ich einen blitzartigen Abgang machte. Jetzt sah er zu, dass er Land gewann, womit zur rechnen gewesen war. In meinen Kreisen ist jeder sich selbst der nächste.
Ich lag auf dieser Treppe, entblößt, entehrt, mit dem Gesicht nach unten, die scharfe Kante in meinem Bauch. Hinter mir hörte ich das höhnische Gelächter der Idioten, die wie die Hunde ihrem Anführer hinterherhechelten. Dann vernahm ich das Geräusch, das eine Gürtelschnalle verursacht, wenn man sie öffnet ...
Die weiße Rose - Teil Zwei
... Ich lag auf dieser Treppe, entblößt, entehrt, mit dem Gesicht nach unten, die scharfe Kante in meinem Bauch. Hinter mir hörte ich das höhnische Gelächter der Idioten, die wie die Hunde ihrem Anführer hinterherhechelten. Dann vernahm ich das Geräusch, das eine Gürtelschnalle verursacht, wenn man sie öffnet.
„Na mein Püppchen, freust du dich darauf, endlich erwachsen zu werden?" Es war Andares. Noch immer sträubte sich alles in mir dagegen, die Wahrheit hinter seinen Worten zu erkennen oder gar zu akzeptieren. Darum war alles, was ich in diesem Moment unmissverständlich spürte, der uneingedämmte Hass, der von ihm ausging. Lust, Gier, Verlangen, Machtrausch ... das alles fühlte ich nicht, hatte ich wohl ausgeblendet, in der sich mir gerade offenbarenden Welt für nicht existent erklärt.
Der Druck auf meinem Oberkörper sagte mir, dass sich Andares auf mich geworfen hatte. Ich spürte seinen schneller werdenden Atem in meinem Nacken und wie sich die Härchen auf meinen Armen dabei sträubten.
Er keuchte seltsam, knurrte den anderen beiden zu: „Spreizt diesem dreckigen Luder die Beine! Wie soll ich sonst da rankommen!" Zwei Hände packten meine Fußgelenke und zerrten sie mit einem Ruck auseinander. Die raue Steinkante riss mir die dünne Haut über den Schienbeinen auf. Ich biss die Zähne zusammen, blieb so stumm wie ein Fisch. Andares Kumpel hielten mit ihren Pranken meine Fußgelenke fest, nagelten sie förmlich in die Stufenkante. Ich lag da, aufgespreizt wie ein Schwein auf dem Spieß über dem Feuer.
Plötzlich hatte Andares seine Hand zwischen meinen Schenkeln und fummelte mit seinen dreckigen Fingern an mir herum. Es war abstoßend. Zugleich verursachte es mir ein seltsames befremdliches Gefühl im Bauch. Und dann fühlte ich noch etwas anderes, etwas, das so gar nicht in meine beängstigende Situation passen wollte. Es war verwirrend, weil es mir in dieser Mächtigkeit unbekannt war, betörend, weil es die Angst lähmte, gewaltig, weil es mich aus meiner Lähmung riss. Es war wie eine glühende Welle. Es war ein Gefühl, das mich wie heiße Lava durchströmte und meine Gedanken ad hoc zum kochen brachte. Das Gefühl heißt Zorn.
Dies ist der Zeitpunkt, wo ich verlange. Dies ist der Zeitpunkt, wo ich meine Waffe ziehe, um etwas oder jemanden zu zerstören, der Zeitpunkt, wo ich danach trachte, ich zu sein. In diesem Moment bin ich von nichts und niemandem abhängig, bin nichts und niemandem ausgeliefert, stehe zu nichts und niemandem in Relation, muss auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen. Keine Konsequenzanalyse! Keine Gedanken an das, was außer mir sonst noch ist! Keine Frage, was danach geschieht! Nur das bloße Verlangen, ich zu sein und für mich zu kämpfen! Ungebunden, unrelativiert, ungefiltert durch die Wahrnehmung meines Verstandes, der alles richtig zu machen versucht, um kein übles Nachwerk zu erzeugen. Dann scheiß ich darauf, ob ich die Welt negativ beeinflusse. Dann scheiß ich auf alles, das nicht ich bin. Denn dann ist der Moment gekommen, da ich an der Grenze aller Grenzen stehe – der Augenblick, wo nichts mehr zählt, abgesehen von mir und meinem Verlangen danach, auszubrechen, meinem Recht darauf, ich zu sein.
Das ist das Absolute. Das ist das Umfassende. Das ist das Chaosmoment.
Es ist der Moment, den die anderen Wahnsinn nennen, und ich Tabula rasa.
Zorn! Der Zorn weist mir den Weg nach vorne! Er ist es, der mich alle Register ziehen lässt – damals, heute, immer dann, wenn ich an einer Grenze stehe. Wenn der Zorn aus mir herausbricht, bin ich ganz bei mir. Alles gelöscht, alles von vorne! Ich bin wie die Zahl Eins, die sich nur durch sich selbst teilen lässt.
Ich weiß, dass etwas nicht stimmt. Mehr weiß ich im Augenblick nicht.
Dann wird es laut. Der Fettsack und der Dürre im Abseits beginnen zu grölen und mir wird schlagartig klar, dass jetzt die eigentliche Chose beginnt. Zeitgleich begreife ich, dass ich mir etwas vorgemacht habe, dass das Geräusch, das ich für das Zerreißen einer Naht hielt, nicht mein Hemd, sondern seine Hose war.
Fehleinschätzungen sind unsere lehrreichsten Einschätzungen.
Die zerrissenen Beinkleider rutschen von seinen haarigen Schenkeln und landen mit einem letzten Scheppern der Gürtelschnalle zwischen meinen Beinen. Das sehe ich nur aus den Augenwinkeln. Aber eines wird mir nun schmerzhaft bewusst. Er ist untenherum nackt, so wie ich. Zwei große schmutzige Hände begraben die meinen unter sich und drücken mir die Handgelenke brutal gegen die Stufenkante. Ich verzichte darauf zu schreien und schlucke die Magensäure, die bitter meine Speisröhre hochkriecht, gewaltsam hinunter. Es ist kein Geheimnis mehr. Ich sitze fest. Und der Mann in meinem Rücken kann mit mir tun und lassen, was er will.
Meine erste wahre Erkenntnis an diesem Tag.
Der Stein unter mir ist nass – von meinem Schweiß. Meine Haare sind nass. Meine Handinnenflächen sind nass. Mein Herz schlägt arrhythmisch. Mein Atem geht mal langsam, dann wieder stoßweise. Es fühlt sich an, als hätte mein Körper vergessen, wie die Sache läuft – als wüsste er nicht mehr, wie man Herzschlag, Atmung und Verdauung kontrolliert. Ich habe in der Tat auch das permanente Gefühl, dass sich mein Darm jeden Moment entleeren müsste. Mein Körper hat den Geist aufgegeben. Aber mein Geist, mein Herz, die wissen plötzlich, was Sache ist.
Gerade als ich mich umdrehen will, um meinem Peiniger ins Gesicht zu sehen, spüre ich ein leichtes Tippen, etwa eine Handbreit unterhalb meiner linken Achsel. Ich blinzle. Instinktiv drehe ich meinen Kopf so weit, dass ich einen Blick auf das erhaschen kann, was ich gespürt habe. Ein Dolchgriff ragt aus der ledernen Halterung, die Andares um seine Brust geschnallt hat. Die Waffe sieht aus, als wäre sie an ihrem angestammten Platz, als gehöre sie genau dort hin – an meine Seite, in meine Hand.
Die zweite wahre Erkenntnis an diesem Tag.
Ich spüre, wie ich gepresst Luft hole und beginne das Gefühl in mir auszukosten, so lange, so inbrünstig, bis es den letzten vernünftigen Gedanken zu kalter Asche verbrennt. Zorn.
Ich habe einen Fehler gemacht, doch da ist die Chance, ihn zu meinen Gunsten zu verkehren. Ich habe etwas übersehen. Übersehen, überhört, überfühlt ... Die Wahrheit – überwölbt von allem, was für mich gerade relevant war. Die Tatsache, dass man mir meine Beute wegnehmen wollte, verdrängte die Angst vor Schlimmerem und so tat ich, als gäbe es keinen Grund, das Schlimmere zu fürchten.
Während sich Andares in nachdrücklicher Vehemenz Zutritt verschafft und mein Körper alles tut, um ihm diesen zu verweigern, arbeitet mein Verstand auf Hochtouren. Und nicht nur mein Verstand. Hand in Hand mit dem Gefühl, das mein Inneres so fordernd durchströmt, analysiert er den kürzesten Weg zum Ziel.
Ich will hier raus! – Das ist das Gefühl.
Hier ist der Weg! – Die Antwort meines Verstandes, der das Messer im Visier hat. Der erste Stoß ist, als würde mir jemand die Faust ins Gedärm rammen, aber der Schmerz kann dem Zorn nichts anhaben. Er schreit! Er schreit so laut, dass es mir in den Ohren hallt! „Alles oder nichts!", schreit er in meinem Kopf, meinem Bauch, meinem Herzen!
Während ich nach Luft schnappe, wird die von mir übersehene, die von mir erdrückte, niedergefühlte Wahrheit Realität: Andares ist in mir, obwohl ich es ihm verboten habe!
Mein Blick ist plötzlich verschleiert. Überall Rot. Fein geädert schiebt sich der transparente Vorhang vor meine Augäpfel und der Griff des Messers ins Zentrum meines Blickfeldes.
Ich kann alles sein!, schießt es mir durch den Kopf und ich spüre, wie ich kräftiger werde.
Der Fette taucht neben uns auf und hilft seinem Herrchen dabei, den Überblick zu behalten. Während ich fühle, wie der Druck in mir nachlässt und mein Zorn ungeahnte Dimensionen erreicht, wird es still um mich. Alles scheint sich verlangsamt zu haben. Ich habe das Gefühl, als hätte ich ewig Zeit, um meinen Plan umzusetzen.
Mein Arm schmerzt, als ich ihn nach hinten drehe, um an die Waffe zu kommen – ein leises Ziehen, ein feines Reißen in meinem Gelenk ... Wunderbares Gefühl! Ich bin wieder da! Der Geist wach, der Körper in Bewegung ... Ich spüre den glatten kalten Griff des Dolchs, fühle, wie er sich in meine Handinnenfläche schmiegt, als wäre er nur für mich gemacht.
Andares keucht und fühlt sich unbesiegbar. Er arbeitet sich gerade zu seinem ganz privaten Höhepunkt vor ...
... und wird jäh unterbrochen.
Ein Ruck, ein Aussetzen des Atems, dann hört der Druck in mir auf.
Ich stoße Andares zur Seite. Das Messer löst sich aus seinem Hals. Ich sehe in sein Gesicht. Er sieht hochkonzentriert aus. In Wirklichkeit arbeitet er gerade an seinen letzten Atemzügen.
Keine Sorge! Ist ja nur ein Messer ... nur ein Messer. Messer tun nicht weh. Oder doch?
Ich sehe an meinem Körper hinab und bemerke, wie ein Rinnsal Blut aus meiner Mitte hervorquillt und sich einen Weg die Treppe hinunter bahnt. Dann erkenne ich den Fetten. Er starrt mich an. Er hat gar nichts begriffen. Wieder höre ich Andares' Atem. Mittlerweile rasselt er.
In diesem Moment kommt Leben in seinen dicken Kumpel. Er hebt seine Faust, sein Bein und will über Andares reglosen Körper steigen. Es wird wieder laut, viel zu laut für meine Begriffe. Jetzt erst registrierte ich, dass der Dünne, der unterhalb der Treppe steht, wie ein Verrückter herumbrüllt. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, der Fette ist kurz davor, mir eine überzubraten.
Das Ziehen in meinem Unterleib hat sich in ein dumpfes, rhythmisches Stechen verwandelt, doch der Schmerz rückt immer weiter in die Ferne.
Ich habe etwas übersehen. Aber das passiert mir kein zweites Mal.
Ein heftiges Beben rattert von meinen Füßen bis zu meinem Hals und bleibt mir in der Kehle stecken. Ich schmecke Blut auf meiner Zunge, obwohl da keines ist. Der Fette ist jetzt bei mir. Er ahnt nicht, dass ich jede seiner Bewegungen kommen gesehen habe.
Du bist dran!
Was danach passierte, kann ich auch heute noch nicht ganz begreifen. Alles, was ich weiß ist, dass ich schneller war als meine Gegner. Als mich Andares' schwerfälliger Kumpel mit einem Schlag ins Reich der Träume schicken wollte, hatte ich das Messer längst im Anschlag. Und noch bevor der Fette „Habt Acht!" schreien konnte, steckte die Klinge in seiner Brust. Ich weiß nicht, woher ich es wusste, aber ich drehte sie einmal um ihre Achse, bevor ich sie wieder herausriss. Blut quoll aus dem runden Loch und platschte zu Boden. Mit einem leisen Wumm landete Nummer Zwei auf der Treppe. Nummer Drei war so perplex über das, was sich gerade vor seinen Augen abgespielt hatte, dass er schlicht zu handeln vergaß. Er hatte aufgehört zu schreien. Wie paralysiert sah er mir dabei zu, wie ich mich auf die Füße kämpfte.
Tja, und da standen wir. Ich und der Letzte, der noch auf den Beinen war. Hinter mir wimmerte der Fettsack erbärmlich und schnappte verzweifelt nach Luft. Vor mir stand der Kerl und starrte mich an, als wollte es ihm einfach nicht in den Kopf, wie ich unterernährtes kleines Gör es geschaffte hatte, seine Kameraden zu überwältigen. Sein Blick ist mir noch lebhaft in Erinnerung – Da war ich, ein Mädchen von zarten zwölf Jahren, bis auf ein dickes, wollenes Hemd nackt und so dürr, dass jeder andere bei meinem Anblick laut losgelacht hätte. Doch dieser Mann lachte nicht. Ich fühlte, wie er in meinem Gesicht etwas sah, das er nicht verstand. Und was er sah, machte ihm Angst.
Jetzt fühlte ich mich Herr der Lage. Ich war frei zu tun, was immer ich zu tun gedachte, was auch immer mir in den Sinn kam. Der Zorn war verflogen. Es arbeitete nur noch mein Verstand. Ich hatte mich dagegen entschieden, Opfer zu sein, und diese Entscheidung hatte ich Wirklichkeit werden lassen. Niemand hatte mich davon abgehalten, weil niemand es konnte. Schon gar nicht diese halbstarken, vom Leben ausgekotzten Hundesöhne, die sich vor ihren eigenen Schwächen fürchteten. Und dieses, mein neu erworbenes Selbstgefühl wurde auch dem letzten von ihnen zum Verhängnis. Er bekam meine ganze Kraft zu spüren – eine Kraft, die er selbst und seine Kameraden erst in mir geweckt hatten. In diesem Moment war es mir egal, ob er es gewesen war, der versucht hatte, aus mir etwas zu machen, das ich nicht sein wollte, oder sein zu groß geratener Kumpel.
Er war zur falschen Zeit am falschen Ort ... und er stand mir im Weg!
Der Mann hatte mir nichts entgegenzusetzen. Den Dolch in seinem Gürtel vergaß er und die Faust wollte ihm wohl beim Anblick des deplatzierten Lächelns auf meinen Lippen nicht gehorchen. Ich stieß das Messer nicht in seinen Hals oder sein Herz oder in irgendeine andere lebensbedrohliche Region. Die Klinge grub sich in seinen Bauch. Und während er keuchend in die Knie ging, riss ich sie hoch und schnitt ihm den Unterleib bis zu seinem Schwertbein auf. Dann stieß ich ihn mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte von mir, ohne die Waffe loszulassen. Röchelnd kroch er bis zum Treppenabsatz. Weiter kam er nicht. Doch bis zu seinem Tod hatte er noch ein paar qualvolle Augenblicke. Und die wollte ich ihm auf keinen Fall vorenthalten.
Während er sich über der Treppe krümmte, blickte ich mich nach meiner Hose um. Sie lag einige Schritte entfernt auf den Pflastersteinen. Die blutenden Wunden, die sich über meine Beine, meinen Bauch und meine Arme zogen, spürte ich kaum, als ich darauf zuhumpelte. Alles, was ich fühlte war diese unermessliche Kraft, die sanft und unauslöschlich in meiner Brust pochte.
Nachdem ich mir die Hose angezogen hatte, kehrte ich zur Treppe zurück. Mittlerweile war auch der letzte der drei seinen Verletzungen erlegen. Er starb auf seinen Knien, die Stirn auf der ersten Stufe ruhend.
Mein eigentlicher Peiniger lag mit heruntergelassenen Hosen vor der verriegelten Tür zur Taverne. Ich hinkte die Treppe zu ihm hoch, riss ihm das Hemd auf und zog es von seinen Schultern. Unter schweißtreibendem Kraftaufwand setzte ich ihn auf und lehnte ihn mit dem Rücken an die hölzerne Tür. Ich führte die Klinge des Messers an seine Brust. Sorgfältig begann ich einen Buchstaben nach dem anderen in das tote Fleisch zu schneiden.
Am Ende prangte ein Name auf dem blassen Grund seiner bleichen Haut – groß, glänzend und in prächtigem Rotton.
Ohne Hast säuberte ich die Klinge und entfernte mich ein paar Schritte von der Unglücksstelle. Es war ein grotesker Anblick. Ein schmutziger nackter Mann saß, die Beine angewinkelt, auf dem obersten Treppenabsatz und hatte seinen Kopf gegen die Tür gelehnt, als würde er sich ausruhen. Über ihm schaukelte ein Schild mit dem Schriftzug Taverne zur weißen Rose quietschend im Wind. Darunter leuchteten die Buchstaben C-H-A-R-A in einem satten Rot von der Leinwand seiner toten Haut.
Zu Andares' Füßen kauerten seine Kameraden. Beide kniend, der eine mit der Stirn den Treppenabsatz berührend, der andere vorn übergebeugt, das Gesicht zu Boden gewandt. Sie sahen aus, als würden sie vor ihrem König zu Kreuze kriechen.
Ich stieß das Messer in meinen Gürtel. Im Vorbeigehen griff ich mir das Bündel, das sie mir abgenommen hatten. Dann schritt ich gemächlich die Gasse entlang Richtung Kai.
Von diesem Tag an hinterließ der Name Chara einen bitteren Nachgeschmack unter meinesgleichen. Flüsternd trug der Wind die Kunde von meinem kaltblütigen Mord durch die Straßen und Gassen Agyras und verbreitete sie unter all den Obdachlosen, Banditen und Mördern, mit denen wir uns das Terrain teilten.
Ich begann damit, meine Muskeln zu stählen. Sie wurden zu meinem Kapital, sie waren mir wie die Manifestation jener Kraft, die in mir erwacht war. Meine körperlichen Attribute wurden zu meinen Waffen. Meine Erscheinung veränderte sich radikal. Ich wurde Chara Pasiphae-Opoulos – „Sohn Pasiphaes" – eine Frau, die gerne für einen Mann gehalten wurde, und die wenige Jahre später zur Assassinin ausgebildet werden sollte.
Ich fand einen Zweck und so blieb ich am Leben. Auch wenn ich, um meinem Leben einen Sinn geben zu können, den Zweck eines anderen stehlen musste. Ich machte die Zwecke meines Herrn zu meinen eigenen. Mein Zweck bestand nunmehr darin, dem Meister für die Erreichung seiner Zwecke zweckdienlich zu sein.
Die Leute denken, ich wäre grausam. Doch sie haben nicht verstanden, dass der Grausame ein Opfer und der Skrupellose ein Täter ist. Der Skrupellose weiß, dass es nichts geben wird, was sich ihm in den Weg stellt – nichts, abgesehen von seinem eigenen Versagen und dem Tod. Diese Tatsache unterscheidet ihn vom Grausamen, der seinem Verlangen nach Macht und seiner Sucht nach Zerstörung nicht gewachsen ist. Der Grausame erliegt seiner Neigung und fällt, während der Skrupellose unbeirrt seiner Wege geht.
Ich betrete den Kai, als wäre nichts gewesen. Meine Augen suchen Tomein und finden ihn am Brückenpfeiler. Er sieht mich an, sieht mich zum ersten Mal wirklich. Sein Blick spricht Bände, in seinem Kopf scheint sich eine Idee zu manifestieren.
Ich senke meinen Blick und spüre, dass ich nicht mehr die bin, die ich heute Morgen war – als wäre ich tot gewesen, aber nun zu neuem Leben erwacht. Oder ist es umgekehrt?
Schmerzen gehen in Rauch auf, Rosen kriegen Dornen ...
Einmal durchgeatmet und ich weiß, mir kann nichts mehr passieren – nie mehr. Meine Lunge speit Feuer und meine Fäuste fühlen sich an, als könnte ich damit eine Klinge in die rechte Form hämmern.
... und vielleicht bin ich viel zu leichtsinnig, doch ich weiß, der Tod kann mir nichts mehr anhaben.
Freispruch
Aus meinen privaten Aufzeichnungen vom Sedag, 2. Trideade im Hirschmond, 348 nGF
Irgendwann hörte ich jemanden sagen: „Ich bin mir gewiss, „in meiner Freiheit bin ich nicht durch mich selbst, sondern Ich wurde mir in ihr geschenkt ..."
Als ich diese weltfremden Worte das erste Mal hörte, musste ich lachen. Ich hielt sie für absoluten Schwachsinn!
Damals hatte ich allerdings auch keine Ahnung, was es bedeutet, frei zu sein. Der Sinn dieses Begriffs entzog sich meinem Verständnis. Ich war nie frei und schon gar nicht wurde ich mir selbst geschenkt. Doch jetzt wird mir die Bedeutung dieses Satzes allmählich klar. Ich beginne zu verstehen, was genau es mit der Freiheit auf sich hat und erahne, was dieser Mann gemeint hatte, als er sagte, „in der Freiheit wird man sich selbst geschenkt". Ich habe begriffen, dass ich mit dem Faktum meiner Freiheit die Möglichkeit bekomme, uneingeschränkt ich zu sein. Die Freiheit macht mir genau das zum Geschenk – MICH. Keine Befehle mehr, keine Anleitungen, keine von fremdem Verstand in meinen Kopf geborenen Normen und Gesetze ... Nur ich und meine Gedanken, meine Fragen, meine Zweifel, meine Verantwortung und zuguterletzt – meine Entscheidungen. Geniale Sache!
Was dieser Mann allerdings unter den Tisch fallen ließ, als er so schöngeistig über den Begriff der Freiheit zu philosophieren wusste, ist, dass es die Freiheit neben ihrem grenzenlosen Altruismus auch sehr gut versteht, das Ich in die Isolation zu stoßen. In seiner spontanen Bewunderungsbekundung vergaß dieser Mann, dass man der Freiheit bei aller Bereitschaft, der Menschheit einen Gefallen zu tun, einen gewissen Zynismus nicht absprechen kann. Denn indem die Freiheit mich mit mir selbst beschenkt, wirft sie mich auf mich selbst zurück und lässt mich mit mir allein. Sie zieht mir den sicheren Boden unter den Füßen weg, jene Basis, die mir dabei hilft, mich in dieser Welt zu orientieren. Plötzlich bin ich nur mit mir, ohne Anleitung, ohne Vorgaben, ohne Maß und Ziel. Und ohne diese von außen festgelegte Norm kann ich zu keiner Gewissheit gelangen. Ich für mich kann mir auf keinen Fall sicher sein. Jeder meiner ganz persönlichen Gedanken, Überzeugungen und Entscheidungen ist zweifelhaft und damit alles andere als eine sichere Ausgangssituation.
Mir bleibt nur zu hoffen, dass ich die wahren Normen vertrete. Doch wissen werde ich es nie. Wie kann ich ohne Bestätigung meiner Schlussfolgerungen durch einen Konsens mit denen, die nicht ich sind, je gewiss sein, dass ich auf dem richtigen Weg bin?
Wie kann ich ohne Al'Jebals Befehl je sicher sein, richtig zu handeln?
Vielleicht bist du nur mein Meister. Vielleicht bist du nur mein Abgott. Vielleicht bist du nur mein absolutes Ideal.
Vielleicht bist du aber auch die Seele, die meiner Seele Gegenstück bildet. Vielleicht bist du die Liebe, die ich nicht zu zerstören vermag, aber die zu fühlen ich nicht stark genug bin. Vielleicht bist du die Macht, die ich immer dann in mir spüre, wenn du nahe bist, vielleicht die Angst, die mich innerlich auffrisst, sobald du mir zu nahe kommst. Vielleicht bist du die Sehnsucht, die ich fühle, wenn es über meinem Herzen heiß wird, vielleicht die Kraft der Zerstörung, die über mich kommt, wenn ich diese Hitze zu lange nicht gefühlt habe.
Vielleicht bist du der, den ich immer suchen werde.
Vielleicht bist du der, den ich irgendwann vergessen kann.
Vielleicht bist du der, den ich am Ende herausfordern muss.
Die Sache mit dem Schicksal
Daradag, 2. Trideade im Rabenmond, 346 nGF
Wenn der Mensch nach seinem Schicksal fragt, dann ist er ein Suchender, ein Hoffender, ein Wünschender. Wenn der Mensch nach dem Schicksal fragt, dann sucht er nach seinem ureigensten Platz in der Fülle dessen, was existiert, dann hofft er auf einen besonderen Stellenwert seines kleinen Lebens unter all den Lebenden, dann wünscht er sich einen Statut, der sein Dasein aufwertet.
Wenn man in den Straßen von Agyra aufwächst, sucht man nicht, hofft man nicht, wünscht man nicht. Dort berührt das Schicksal kein Schwein. Es ist ein sinnenthobener, leerer Name, der von niemandem je in den Mund genommen wird. In den Straßen von Agyra bedeutet der Morgen nicht mehr und nicht weniger als die simple Entscheidung, aufzuwachen, aufzustehen, sein Dasein weiterzufristen und fraglos für das nackte Überleben zu kämpfen. Jeden Tag.
Schicksal? Kein Hahn kräht dort danach. Keiner fragt danach, ob das Wort „Schicksal“ irgendeine Bedeutung haben könnte. Jemand, der seinen Namen nicht kennt, nichts von seinen Wurzeln weiß, kein Ziel, keine Perspektiven hat, fragt nicht nach seinem Schicksal.
Die einzige Frage, die ich mir jeden Morgen stellte, als ich meine Augen aufschlug und auf das feuchte, moosbewachsene Gemäuer jenes Brückenbogens starrte, der mir Obdach war, lautete:
„Will es der Zufall heute, dass ich mit meinem erbärmlichen Leben davonkomme?“
Und abends, wenn ich mich unter eben diesem Pfeiler zusammenrollte:
„Wieso um alles in der Welt, wollte der Zufall es, dass ich den heutigen Tag überlebte?“
Es gab Augenblicke, in denen ich es bereute, überhaupt am Leben zu sein, denn ich wusste, egal was auch immer mich am Leben hielt, dieses Leben würde nie auch nur die geringste Bedeutung haben und nichts darin je Sinn ergeben. Ich lebte ausschließlich, um nicht tot zu sein. Aber jemand der lebt, wie ich gelebt habe, kann unmöglich um seines eigenen Lebens Willen leben wollen. Ein Leben wie dieses will man nicht erhalten.
Denn ein Leben, dessen einziger Zweck es ist, den Tod zu besiegen, falsch, dem Tod zu entgehen, ist kein Leben. Es ist lediglich ein Bangen – der unerträgliche Gemütszustand, Angst vor dem Tod zu haben. Uns alle, die wir in den Straßen Agyras lebten, hielt einzig und alleine die Angst vor dem Tod am Leben und keinem von uns wäre je in den Sinn gekommen, dies als sein Schicksal zu betrachten.
„Mein Schicksal ist es, obdachlos, heimatlos und mittellos zu sein, und zu töten, um zu überleben.“ Was für ein kranker, was für ein ungeheuer zynischer Gedanke!
Es war auch nicht das Schicksal, das mich zum Bettlerkönig führte, sondern mein Mentor Tomein und nicht das Schicksal entschied, dass ich dort blieb, sondern ich selbst. Für mich lagen die Dinge damals klar auf der Hand: Lebe! Aber wenn du dich für das Leben entscheidest, dann finde einen Zweck, der es dir erlaubt, an deinem sinnlosen Dasein festzuhalten. Oder stirb! Denn wenn du bleibst, was du zum augenblicklichen Zeitpunkt bist, dann gibt es kein einzig überzeugendes Argument dafür, dass du dein Leben dem Tod vorenthältst. Ich hätte mein erstes, mein einzig wahres Prinzip verraten, hätte ich weitergelebt wie bisher: Der Tod ist einem falschen Leben vorzuziehen!
Ich fand einen Zweck und also blieb ich am Leben. Auch wenn ich, um meinem Leben einen Sinn zu geben, den Zweck eines anderen stehlen musste. Ich machte die Zwecke des Bettlerkönigs zu meinen eigenen. Mein Zweck bestand nun mehr darin, dem Bettlerkönig für die Erreichung seiner Zwecke zweckdienlich zu sein. Und nicht das Schicksal wollte es so, sondern ich. Auch war es nicht das Schicksal, das mich zu Al’Jebal führte, es war Zufall, dass eine Assassinin des Bettlerkönigs nach Aschran aufbrach, um ihrem Meister einen Dienst zu erweisen, und der Zufall ließ es geschehen, dass Al’Jebal diese Assassinin für seine eigenen Zwecke nutzen konnte.
Es gab Zeiten, meine Seele kann es bezeugen, in denen ich mit jeder Faser meines Herzens glauben wollte, dass es das Schicksal war, welches mich zu Al’Jebal führte. Doch das Herz sucht verzweifelt nach der Lüge, die es zu heilen vermag, und die Wahrheit findet es nur in der Liebe, einem Zustand, der ein „Wahr“ oder „Falsch“ gar nicht kennt.
Nun wollte es der Zufall, dass mir ein Schamane vom Stamm der Goygoa tief in die Augen blickte und behauptete, dass mein Leben weit mehr sei als nur ein Dasein ohne Sinn. Dass selbst ich ein Schicksal hätte. Schlimmer, er prophezeite mir wachen Auges, dass ich das Schicksal sei.
„Du bist das Sandkorn, das die Waage zum Kippen bringt. Du bist unser aller Schicksal.“
Das waren seine Worte.
Was für eine Farce, einem Menschen wie mir so etwas ins Gesicht zu schleudern. Jemandem, der der Überzeugung ist, dass des einzelnen Menschen Streben ein Geschäft ist, dessen Ertrag die Kosten nicht deckt.
Was mir der Schamane sagte, war wie das Glaubensbekenntnis eines Priesters, eine Sache des Herzens, aber keine Sache der Vernunft und damit hohl und leer. Und mit dieser Überzeugung kehre ich zurück zu mir selbst, zurück zu meinem einzigen Lebenszweck, meinem einzigen Ziel.
Mein Name ist Chara. Chara Viola-Lukullus, Chara Pasiphae-Opoulos, oder auch Cäsarusmörderin, Chaosbringerin, Lichtbringerin, Zerstörerin von Caeir Urd ... je nach Belieben, je nach Bedarf. Man könnte sagen, das bin ich, oder ich bin ES, oder auch ES ist identisch mit dem Namen Chara. Eine andere Definition für das, was ich bin, gibt es nicht. Ich bin Chara, eine Assassinin Al’Jebals. Das ist es, was ich bin.
Ich werde wie bisher dem Mann dienen, der es für sich selbst genommen wert ist, ihm zu dienen. Die Frage, wozu ich sonst noch hier sein könnte, lasse ich hinter mir. Auch vergesse ich die flehentliche Bitte des Schamanen, ich möge mein Leben schützen, unter allen Umständen am Leben bleiben. Ich behalte den letzten Rest an Eigenständigkeit. Denn meine letzte Zuflucht, den Tod, gebe ich nicht auf. Ich alleine entscheide darüber, wann es Zeit zu sterben ist. Kein Kerrim, kein Tako, kein goygoischer Stammeskrieger entscheidet mein Ende für mich … Einer, nur ein einziger kann mir diese letzte Freiheit nehmen.
Wenn der Namai es ausspricht, ändert sich alles. Wenn er es ausspricht, breche ich mit meiner ersten Maxime und lasse sein Wort zur Wahrheit werden:
„Du bist Chara Pasiphae-Opoulos, meine Hatschmaschin und Das Sandkorn auf der Schicksalswaage.“
Veränderung
Criochdag, 1. Trideade im Trollmond, 346 nGF
Sie sind mir viel zu nah. Sie drängen sich um mich, Tag und Nacht. Wenn ich morgens die Augen aufschlage und mich in meinem todgeweihten Körper wiederfinde, wenn sich die betäubende Finsternis der kalten, schwarzen Nächte Erainns über meine Schlafstatt wölbt, wenn ich schlafe, esse, trinke, rauche.
Sie sind da - in jedem Augenblick, in dem ich mich über diesen ausländischen Boden bewege, bilden sie einen stählernen Ring um mich, eine Mauer, die selbst ich nicht durchbrechen kann. In einer Sturheit, die selbst mir extrem erscheint. Ich sehe ein, dass van de Drakeen von mir fordert, die Meute zu kontrollieren, zu befehligen, wie man es mit seinen Leibwächtern üblicherweise macht. Andererseits hört er mir nicht zu, wenn ich ihm erklären will, warum ich dazu nicht in der Lage bin. Es sind ja keine Leibwachen im herkömmlichen Sinne. Vielmehr folgen sie einem von mir und unserer Mission unabhängigen Ruf. Sicher, der General ist einigermaßen eingespannt und hat keine Zeit für lange Erklärungen. Auch das sehe ich ein. Einfachheit und Knappheit sind eben jene Eigenschaften, die das Befehlshabertum begleiten wie die Stammeskrieger mich.
Sie sind wachsam und beweglich, treffsicher und von eindrucksvoller körperlicher Kraft. Ihre Waffen sind primitiv und effektiv. Sie sind tapfer - Männer von klaren Richtlinien und eisern definierten Zielen. Sie folgen einem klaren Prinzip. Natürlich respektiere ich das, auch wenn ich das zugrunde liegende Motiv kenne und für verrückt halte. Wie könnte ich sie nicht respektieren? Ich bin ja vom gleichen Schlag. Doch wenn ich von diesen Aufzeichnungen aufblicke, sehe ich lediglich einen Haufen Halbnackter, die sich über meinen Zeltboden verteilen wie räudige Straßenköter um einen Knochen, und deren einziger Gedanke es ist, ihre Beute mit Leib und Leben zu verteidigen, komme was da wolle. Selbst dann, wenn sie schlafen.
Tja, ein Blick von meiner ganz privaten Leibgarde zum Zelteingang erinnert mich daran, dass ich nicht die einzige bin, die hier ein Problem hat. Vor wenigen Augenblicken stand Lucretia in Begleitung ihres dicklichen, für meinen Geschmack zu unterwürfigen Gefährten in ebendiesem. Sie war bis auf die Knochen durchnässt und zu dementsprechend pikiert, was ihr recht gut zu Gesicht steht. Ganz im Stile einer waschechten Oberkommandierenden verlangte sie von mir zu erfahren, wo man ihren erlauchten Hintern zu Betten gedacht hätte. Ihre maßlose Empörung angesichts der Tatsache, dass ihre Ankunft weitestgehend ignoriert wurde und die ihr, nebenbei bemerkt, weniger gut zupass ist, veranlasste mich dazu, mich dumm zu stellen. Ich hoffe, sie sucht immer noch nach ihrem Zelt. Es wäre ein kleiner freudvoller Moment in allzu freudlosen Zeiten.
Leider ist es immer mehr so, dass diverse Mitstreiter meinen Sinn für Lebenserhaltung überstrapazieren. Lucretia schafft es konsequent und bei vollstem Bewusstsein, sich in Situationen zu manövrieren, an welchen sie zwangsläufig scheitert, ohne auf die Idee zu kommen, ihren Stil oder, einfacher, ihr Begehr zu ändern. Nach eigener Aussage liege die Ursache für dieses fehlgeleitete Verhalten an ihrem Unvermögen, jemandem eine Bitte abzuschlagen, selbst wenn dieser jemand ihr Untergebener ist und es um Leben und Tod geht. Ich gebe zu, sie selbst hat das Ganze ein klein wenig anders formuliert. Außerdem stellte sie klar, sie hätte den Oberbefehl nur deshalb übernommen, weil der Oberkommandant laut General einer aus unseren Reihen sein müsse. Diese Aussage impliziert selbstverständlich, dass Telos oder, Al’Jebal behüte, meine Wenigkeit in ihren Augen der Sache nicht gewachsen wären, worin ich ihr ausnahmsweise sogar Recht gebe. Doch die Tatsache, wie hässlich sie das Kommando ihrerseits in den Sand zu setzen vermag, scheint sie ebenso wenig zu irritieren wie die Tatsache, dass ein Kämpfer wie der Kommandant des Bataillon D’Amur lieber Befehle hört als eine höfliche Bitte. Besonders dann, wenn wir uns im Krieg befinden. Aber wer die Macht will, vor keinen Gott knien zu müssen …
Apropos Macht, alle Macht der Taube von Hil!
Leider gibt es da noch etwas, das mir meine eigene Unzulänglichkeit nur allzu schmerzhaft vor Augen führt. Und allmählich frage ich mich, wo meine profitable Gleichgültigkeit geblieben ist.
Denn …er lässt mich allenthalben grüßen und jedes Mal ist er bereits fort, wenn ich auftauche. Leider lässt mich das nicht kalt. Ich muss mich mit der befremdlichen Tatsache abfinden, dass der Name des Vampirs ein Gefühl in mir erzeugt. Vielleicht liegt es daran, dass ich lange Zeit überzeugt davon war, er würde nie wieder in mein Leben treten. Abgesehen davon, wieso fühle ich überhaupt irgendetwas? Mal abgesehen von meinem alten Begleiter, dem Zorn. Meine Seele dürfte nicht in Schwingung geraten. Wer weiß das besser als ich. Doch sie tut es.
Mich stört der Gedanke, dass Marduk Lomond MacDragul zu einem Gedanken geworden ist, noch dazu einem beharrlichen. Er droht damit, meinen Willen zu schwächen, meine Bestimmung zu entfremden und einen anderen unantastbaren, alles bestimmenden Gedanken zu überschatten. Und ich weiß, dass ich das verhindern muss. Leider reizt es mich bis auf’s Blut, zu erfahren, wie einer seines Schlags … Verdammt! Ich kann leider nicht leugnen, dass es sich gut anfühlen würde, wenn der Mann, der in einer ungewöhnlichen Nacht in Valland mein Zelt betrat, ein persönliches Interesse an mir hätte. An jener Frau, der nicht einmal der Tod etwas abgewinnen kann.
All diese Gedanken nähren die Überzeugung in mir, dass es Zeit ist, die Sache hier zu Ende zu bringen und nach Billus zurückzukehren. Das heißt, wenn wir die Schlacht gegen Caeir Isahara überleben sollten. Doch irgendwie bin ich zuversichtlich, dass dies zumindest auf mich zutrifft. Ich starb schon einige Tode, doch keiner von ihnen war endgültig.
Treffer
Daradag, 1. Trideade im Trollmond, 346 nGF
„Vorsicht Chara, auch mir liegt an Eurem Blut!“
Es waren seine ersten Worte, nachdem er wie aus dem Nichts neben mir auftauchte und meinen Gegner zu Tode brachte. Seine ersten Worte, und meine Stimme erstarb. Ich vergaß darauf zu antworten, ich vergaß, dass ich der Sprache mächtig bin, ich vergaß zu atmen.
Ich vergaß mich selbst und den Grund meiner Existenz.
Ich vergaß Al’Jebal.
Der Rest ist Geschichte. Ich vermeide es, daran zu denken. Und doch, ich kann immer noch die Blicke der anderen auf mir spüren, die, trotz ihrer eigenen Nervosität in seiner Gegen-wart zumindest den Mund aufbrachten. Ich kann ihre Gedanken hören, ihre Verwunderung über mein seltsames Verhalten und Lucretias grenzenlose Freude darüber, dass es Chara die Sprache verschlagen hat.
Chara schweigt, weil sie kein Mensch vieler Worte ist. Sie schweigt, wenn sie tötet, wenn sie schläft, wenn sie nicht bei Bewusstsein ist und wenn sie denkt, das Schweigen lohnt sich. Doch nie, niemals schweigt sie, weil sie Angst hat. Denn sie hat keine Angst. Nicht vor dem Basilisken, nicht vor Zavir, nicht vor Dragati oder seinen Häschern, nicht vor irgendeiner dämonischen oder göttlichen Macht, nicht davor, Schmerzen ertragen zu müssen oder in den Tod zu gehen.
Ausschließlich eine Sache macht ihr Angst, nur eine Sache lässt sie verstummen. Ihretwegen ängstigt sich Chara vor Al’Jebal. Und nur er darf sie ängstigen.
Ich taumle, ich wanke, ich falle. Ich verliere den Überblick, die Kontrolle, das Maß.
Ich - werde - versagen. Ich werde Lomond fürchten und damit meinen Meister verraten. Ich werde …
Komm, Chara, denk nach! Denk nach, wie wir uns von diesem Makel befreien können. Es gibt für alles eine Lösung. Was ist das Wesen der Angst? Sie stößt den Nichtsahnenden auf seine Schwächen, um ihm zu suggerieren, dass er versagen wird. Dass er fallen, dass er sterben wird. Damit drückt die Angst ihn nieder, macht ihn klein und treibt ihn in die Flucht.
Es gibt nur einen Weg, die Angst zu besiegen. Man muss ihr ins Gesicht sehen. Aufrichtig, offen und kampfbereit. Und verbirgt sie sich hinter dem Namen Marduk Lomond, nun, dann ist er es, dem ich mich stellen muss. Dann heißt die Lösung meines Problems, ihm entgegenzutreten und die Gefühle, die er in mir auslöst, mit offenen Armen zu empfangen. Selbst wenn es jenes Gefühl ist, das mich bis heute in die Flucht geschlagen hat.
Denn so mahnten bereits diejenigen, die von sich selbst behaupteten, sie seien weise:
Kehre der Angst niemals den Rücken!
Die Schwarze Rose
Ceaddag, 2. Trideade im Kranichmond, 347 nGF
Es war dieser Blick, mit dem ein Meister seinen Schüler straft. In Al’Jebals Augen … Enttäuschung.
Ich war entblößt. Von der äußersten Schicht meiner Haut bis tief hinein in die Abgründe meiner schwarzen Seele erschütterte mich mein eigenes Versagen. Ich war mit dem Makel der Selbstliebe behaftet. Verrat an mir, Verrat an ihm und in seinem Blick der blanke Zweifel an meiner Treue.
So stand er im Hafen. Dunkel, betörend, fesselnd, doch die Ablehnung in seinem Gesicht machte mir auf’s Neue deutlich, dass es für mich nur den Meister gibt, dem ich absoluten Gehorsam geschworen habe. Schon Monde zuvor hatte ich ihn dort im Hafen stehen gesehen. Doch in keiner meiner Phantasien sah er mich auf diese Weise an. Da war es unausweichlich, dass ich mich von ihm abwandte. Es war unumgänglich, dass ich endgültig nach Lomonds wie auch immer gearteter Liebe verlangte und ihn zu mir kommen ließ.
Denn Lomond war da. Wie immer im rechten Augenblick. Wie gehabt. Er war da, als ich bei der Besprechung an Al’Jebals Tisch saß und versuchte, meine Verzweiflung im Drogentaumel zu dämpfen – solange, bis ich mir sicher war, den Schmerz des Versagens in seiner beißenden Klarheit nicht mehr wahrzunehmen. Zwischen den blassen Schemen des Rauchs, der mich umfing und dem Gemurmel der anderen, die zur Besprechung geladen waren, vernahm ich Lomonds unverwechselbare Stimme. Sie und mein Name aus seinem Mund waren Fluch und Rettung zugleich. Sie waren wie die Aufforderung zu vergessen. In ihnen fand das Verlangen, sich gehenzulassen seine Verlautbarung. Sie verführten mich dazu, die Seele bluten zu lassen und den Körper auf die Streckbank zu schnallen. Nur um zu spüren, dass ich noch am Leben bin. In Lomonds unerwartetem Auftauchen manifestierte sich das Angebot, sich Schwäche zu leisten. Und ich nahm es an.
Als wir den Besprechungsraum verließen, spürte ich Al’Jebals Blicke im Nacken. Doch ich schaffte es nicht, mich zu ihm umzudrehen. Wie auch? Da war noch immer die Schmach über meinen Eidbruch dem Meister gegenüber. Außerdem wusste ich nicht, was seine Blicke zu bedeuten hatten. Was auch immer, ich werde es nicht erfahren. Ich habe den Entschluss gefasst, ihn zu vergessen. Ihn, seine Augen, seine Beweggründe. Stattdessen will ich all meine Aufmerksamkeit darauf richten, dass ich seine Leibeigene bin und dass meine Verpflichtung ihm gegenüber alles ist, was die Beziehung zwischen einem Meister und seiner Dienerin je ausmachen wird. Nichts sonst. Dieser Gedanke wurde mir in jener Nacht zum Angelpunkt, in der ich Lomond auf sein Zimmer begleitete.
Auf dem Weg durch die Gänge Tamangs sprach ich kein Wort. Lomond schien mein Schweigen zu akzeptieren, oder aber die Stille war ihm ganz recht. Vielleicht hielt er auch jedes gesprochene Wort in Vorausschau auf die kommende Überschreitung der Grenze, die unser beider Privatheit sicherte, für unpassend. Worte waren hier fehl am Platz.
Die Stille ließ meinem Verlangen Raum. Jeder Schritt ließ ein Stück mehr der Freiheit in mich fließen, die es mir ermöglichte, ich selbst zu sein. Ich atmete ein und aus, ein und aus, setzte einen Fuß vor den anderen, atmete ein und atmete aus. Und spürte, dass ich immer noch Chara war. Mit jedem Zug füllte ich meine Lungen mit der Gier danach, alle Hemmungen fallen zu lassen. Da war diese verzehrende Hitze irgendwo unter den Hüllen meines einwandfrei funktionierenden Köpers. In meiner Brust loderte eine Flamme, deren Zungen weit über jeden klaren Gedanken hinauszuckten. Wer oder besser, was genau sie entfacht hatte, darüber dachte ich in den wenigen Augenblicken nach, die wir nebeneinander herschritten. Es war ein Ansturm der unterschiedlichsten Bilder, die in dieser kurzen Zeit durch meinen Geist fluteten.
Ich sah Al’Jebal, wie er neben Assef El’Chan im Hafen stand und seine grauen Augen auf uns richtete, sah Lomonds bleiches Gesicht in jener Nacht in meinem Zelt in Valland, wie er im Licht der Laterne stand und mich nach meinen Träumen fragte. Dann blickte ich auf L’Incartos blutüberströmten Leichnam auf Caeir Isahara, erinnerte mich an das darauffolgende, unerwartete Verstummen meines Ichs. Ich nahm noch einmal wahr, wie die Fremde in mir sich dazu entschloss, die Magierin zurückzuholen, um meine Mission zu Ende zu bringen. Ich sah MacArgylls kaltes Misstrauen, als eben diese Fremde Monoch den Schwur leistete. Ich sah mich selbst, wie ich Kerrim voller Entsetzen anstarrte, als er mich darüber aufklärte, dass er in Al’Jebals Namen mit Podfol verhandelt hatte, während ich nur wenige Augenblicke zuvor geschworen hatte, eben diesen Mann zu verfolgen und zu töten. Und ich sah mich ein letztes Mal zusammen mit Al’Jebal in Lucretias Haus auf der Tanzfläche, sein Körper dem meinen so nahe, als wären wir ein Paar.
All diese Eindrücke schossen wie Eiswasser durch mich hindurch, während ich einen Fuß vor den anderen setzte. Meine Schritte hallten auf dem Steinboden wider. Von Lomond war nichts zu hören. Nur ab und an streifte der Saum seines flatternden Umhangs über meinen nackten Arm. Und jedes Mal spürte ich, wie die Flammenzungen höherschlugen und die Kälte in mir verschluckten. Jeder Schritt, der mich weiter von Al’Jebal wegtrug, verstärkte das beißende Verlangen, den Mann neben mir niederzureißen und von ihm niedergerissen zu werden. Mit jedem Bild, das sich aus vergangenen Tagen in meinen Geist drängte, wuchs der Drang in mir, etwas aufzubrechen, etwas zu zerstören und etwas Unbekanntes heimzuholen. Dieser lebende Tote an meiner Seite war wie das gestaltgewordene Verbot, lebendig zu sein. In meinem Verlangen nach ihm spiegelte sich mein Verlangen nach mir wider, ein Verlangen, das jemand wie ich niemals haben dürfte. Der Schrei nach dem Leben, das mir nicht zustand, die Sehnsucht nach der Befriedigung meiner eigenen Bedürfnisse, der Wunsch, ich zu sein und mich zu wollen … Ich hatte versagt, warum nicht gleich noch einmal. Jemand musste bluten. Warum nicht ich? Und er? Lomond würde es allemal begrüßen, wenn ich ihm Schmerzen bereitete.
Als wir den Gang betraten, der in eine einzelne Tür mündete, warf mir Lomond einen forschenden Blick zu. Er versuchte wohl zu ergründen, was in mir vorging. Hätte ich es ihm gesagt, dann wüsste er jetzt, dass sich mein letzter Gedanke, als er die Tür zu seinem Zimmer aufstieß, um Al’Jebal drehte und die Frage, ob der Namai zu Gefühlen denn überhaupt fähig war. Doch als die Tür hinter uns ins Schloss fiel, verschwand auch der letzte Gedanke an Al’Jebal. Lomond sperrte ihn mit all den vernichtenden Eindrücken der vergangenen Monde nach draußen. Wir waren allein.
Es war still. Eine Weile starrte ich auf die verschlossene Tür und machte mich mit Al’Jebals plötzlicher und seltener Abwesenheit vertraut. Lomond stand hinter mir. Allein dieses Wissen jagte ein fiebriges Beben durch meinen Körper. Ich war in seinem Zimmer, auf seinem Terrain. Was für eine einzigartige Situation. Was für eine Herausforderung. Ich hatte mich einem Mann ausgeliefert, der mich mit nichts als einem Schnippen seiner Finger zu Staub zerbröseln konnte. Es war, als würde ich einem unbekannten Gegner gegenübertreten, ohne zu wissen, welche Art der Attacke mich erwartete, aber mit der sicheren Erkenntnis, dass diese mich töten würde.
Langsam drehte ich mich um. Ich sah von Lomond nichts weiter als einen schwarzen Schatten. Es war zu dunkel in dem Zimmer. Hinter dem Bett, das im Zentrum stand, verteilten sich über die Felswand Öllampen in Halterungen aus schwarzem Eisen. Ein silberner Dolch, der mit der Spitze nach unten über zwei gekreuzten Schwertern hing, markierte die Mitte der Lampen. Dann war da noch ein schlichter Tisch aus dunklem Holz, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag. Die beiden Türen in den Seitenwänden machten deutlich, dass Lomond nicht nur diesen Raum bewohnte. Hier wiederum konzentrierte sich alles auf das riesige Bett. Es war aus massivem Stahl – stabil und robust. Genauso wie die restliche Einrichtung. Lomond hatte sicher gute Gründe dafür. Vielleicht hatte er auch gute Gründe dafür, dass das Bettlaken dunkelrot war ...
Ein neuer Schub der Erregung schoss durch meinen Körper und ich sah zu meinem Gastgeber zurück. Er hatte sich nicht bewegt, ließ mir alle Zeit, mich mit seinen privaten vier Wänden vertraut zu machen. Ich bemerkte, dass seine Augen so schwarz wie die meinen waren. Und sie ruhten auf meinem Gesicht. Abwartend, forschend. Eine Weile starrten wir einander nur an. Als ob der eine versuchte, den anderen mit seinem Wissen, seinen Erfahrungen, seiner Menschenkenntnis bloßzulegen, als ob er seine Seele freibekommen wollte, um hinter die Fassade zu blicken. Ich sah rein gar nichts, abgesehen von diesen tiefschwarzen Augen, die mein Gesicht studierten. Es waren die Augen eines vom Leben heimgesuchten Toten und sie waren wissender und gerissener als ich es je bei einem lebendigen Menschen gesehen hatte. Wenn in dieser Nacht jemand von uns beiden die Abgründe des anderen zu sehen bekam, dann war es Lomond. Allein der Gedanke, ich könnte tiefer in den Vampir dringen … Ein uraltes Wesen, ein Kind der Ewigkeit …
Ich spürte ein Lächeln auf meinen Lippen. Es war wohl ein spöttisches und Lomond mochte es auf sich bezogen haben. Dabei galt es meiner eigenen Naivität. Er jedenfalls lächelte nicht.
Ich spähte zu den Kerzenhaltern, die, neben den Öllampen, als Lichtquellen dienten.
Er ging auf meinen Hinweis nicht ein.
Auch gut! Während ich an ihm vorüberschritt, öffnete ich meinen Gürtel und warf ihn auf den Tisch. Dann nahm ich einen Span, der auf einem der Kerzenständer lag und zündete die Kerzen der Reihe nach an. Als ich zum Tisch zurückkehrte, wagte ich einen Blick auf das Buch, das dort lag. Was las ein MacDragul? Oder führte Lomond etwa Tagebuch? Das Buch war aufgeschlagen. Die Seiten leer. Ich grinste.
Als ich mich umdrehte, hatte Lomonds Silhouette Substanz gewonnen. Jetzt erhellte das warme Licht der Kerzen seinen Körper und warf spielerische Schatten auf sein Gesicht. Seine Wangenknochen und die Ringe unter seinen Augen traten hervor. In dem flackernden Licht der Kerzen stachen seine schwarzen Augen wie Obsidian aus seinem blassen Gesicht.
Ich trat an das Bett heran, knöpfte mir das Hemd auf, zog es aus dem Bund meiner Beinkleider und ließ es auf den Boden fallen. Ungerührt sah er mir dabei zu, wie ich mir die Hose öffnete. Es war mir egal, dass er noch kein Kleidungsstück abgelegt hatte, dass er sich noch nicht einmal bewegt hatte. Ich wollte auch gar nicht, dass er mich auszog. Das machte ich lieber selbst. Damit behielt ich ein wenig der Kontrolle, die er mir gleich nehmen würde.
Als ich Lomond gegenübertrat, kam endlich Bewegung in seinen Körper. Mit einem Ruck fetzte er mir die offene Hose von den Beinen. Ich hatte nichts mehr am Leib, abgesehen von den genagelten Stiefeln und dem schwarzen Tuch um meine Hüften, das ich gewöhnlich zum Schutz gegen das raue Leder meiner Rüstung trug.
Wieder huschte ein Lächeln über meine Lippen. Diesmal war ich amüsiert, oder besser gesagt, angemacht. Lomond war unberechenbar und es schon deshalb wert, sich Schwächen zu leisten. Plötzlich wurde mir klar, dass der Vampir noch kein einziges Wort gesprochen hatte. Ein seltener und interessanter Umstand. Lomonds ganz spezielle Waffe war seine Stimme und seine Art zu sprechen. Warum setzte er sie nicht ein? Und warum lächelte er nicht sein ironisches Lächeln?
Seine Augen wanderten nach unten – langsam. Seine Hand glitt zu dem Tuch um meine Hüften. Reflexartig schlug ich sie fort. Jetzt lächelte er und sein Blick kehrte in meine Augen zurück. Aber noch immer sagte er nichts, zeigte keinerlei Zeichen von Erregung. Noch immer stand er da, als wäre er der verdammte Weltfrieden selbst. Wie alt konnte er sein? Ich schwor mir, ihn nicht über mich bestimmen zu lassen. Egal, was geschah. Lomond mochte ein Vampir sein, er war aber nichtsdestotrotz auch ein Mann.
Langsam ließ er seinen Blick von meinem Gesicht über meinen Körper wandern. Er begutachtete jedes Detail – meinen Hals, die Schultern, meine Brust und den Rest weiter abwärts. Ich hinderte ihn nicht daran. Noch hatte ich Zeit. Noch konnte ich der Hitze in meinem Bauch standhalten. Und ich fand es gut, ihm dabei zuzusehen. Er war noch immer in seinen Mantel gehüllt, den schwarzen Mantel mit dem grauen Saum, der mir schon in Valland ins Auge gefallen war.
„Zieh das aus!“, verlangte ich. Er tat es.
„Chara...“
Ich verbrannte innerlich. Seine Stimme fuhr durch mich hindurch wie ein Blitz durch einen morschen Baumstamm. Meine Hand griff nach dem Gürtel, der sich um sein knielanges Hemd wickelte. Mit wenigen Griffen hatte ich ihn gelöst. Während ich ihn zu Boden fallen ließ, blieb mein Blick an der Peitsche hängen, die über seinem Waffenständer hing. Ich zögerte.
„Du solltest tot sein“, flüsterte ich und wiederholte damit, was ich irgendwann einmal in meinen Träumen gesagt hatte.
„Und du lebendig“, gab er mir die vertraute Antwort. „Bist du aber nicht. Du bist nicht lebendig, Chara.“
Dann hatte er plötzlich seine Hände an meinen Hüften. Ich vergaß das Foltergerät und packte seine Handgelenke. Seine Muskeln spannten sich an, als ich seine Finger gewaltsam von meinem Körper löste. Er hätte es verhindern können. Aber er ließ mich gewähren. Lomond wehrte sich auch nicht, als ich ihn an das Bett herandrängte, und ebenso wenig, als ich ihn dazu zwang, sich hinzusetzen, indem ich ihn mit meinem Knie auf die Bettkante drückte. Das alles ließ er sich gefallen, ohne mich aufzuhalten. Doch als ich mich über ihn beugte und mich auf die Matratze kniete, so, dass er zwischen meinen Schenkeln zum Liegen kam, packte er plötzlich meine Schultern und warf mich neben sich. Es ging so schnell, dass ich es kaum mitbekam, da war er über mir. Seine Lippen strichen über meinen Hals. Ein leises, heißes Flüstern glitt über meine Haut.
„Du willst deine Kraft mit meiner messen?“
Seine Augen waren direkt über meinen. Ich erwiderte seinen Blick und schnitt die Angst ab, die zögernd nach meinem Herzen fasste. In meiner Brust rang das unbändige Verlangen danach, überwältigt zu werden mit dem Verlangen nach Kontrolle.
„Gut. Das ist gut. Ich werde dir zeigen, wie es sich anfühlt, schwach zu sein.“
„Ein Kampf ...“, hörte ich mich antworten. „Versuch es, Lomond. Selbst wenn du siegst, hab ich gewonnen.“
Lomonds Lippen formten sich erneut zu einem Lächeln. Sie näherten sich meinem Gesicht. Doch bevor sie es berührten, hatte ich meine Hand an seinem Hals. Ich spürte, wie sein Herz dem Tode zum Trotz Blut durch seine Adern pumpte, fühlte das sanfte Pochen unter meinen Fingerspitzen. Mein Griff war fest, aber nicht schmerzhaft. Lomond hielt trotzdem inne. Und ich nutzte die Gelegenheit, um selbst aktiv zu werden. Mit einem Ruck riss ich sein Hemd auf und presste meine Brüste gegen seinen Oberkörper. Ein Stöhnen entwich seiner Kehle und beschleunigte meinen Herzschlag. Ich hatte mit einem Arm seine Taille umfasst, während ich mit der anderen den dünnen Stoff seiner schwarzen Hose zerriss. Jetzt war der Vampir nackt.
Und dann ließ ich es zu, dass er mich küsste. Seine Lippen lagen warm auf meinen, seine Zunge fand meine Zunge. Ich spürte sein Drängen nach mehr. Das Tuch über meinen Schenkeln war nur ein Hauch von Grenze zwischen meiner bloßgelegten Seele und seinem harten Körper. Jede seiner Regungen war spürbar – seine samtige Haut, jeder einzelne seiner angespannten Muskeln, seine Körpermitte, der Trieb im Zentrum ...
Irgendetwas in mir wollte schreien. Er war zu nahe. Viel zu nahe. Das hatte ich nicht geplant. Seine Zunge war zu tief in mir. Sein Körper zu dicht an meinem. Er drängte sich an meinen Körper, in meinen Verstand, meine Seele. Diesmal griff die Angst mit würgenden Fingern nach mir. Ich war nicht fähig, sie zu bändigen und schlug zu.
Meine Faust traf seinen Wangenknochen. Es war ein harter Schlag, doch nicht mein härtester. Lomond wich dennoch zurück, reagierte aber einen Atemzug später. Als er mich schmerzhaft an den Oberarmen packte und vom Laken hochriss, spürte ich meine eigene Unzulänglichkeit. Er war stark, viel stärker, als sein schlanker Körper vermuten ließ. Ich versuchte mich aus seinem Griff zu winden, doch er ließ mich nicht los. Ich fluchte innerlich, war es nicht gewohnt, jemandem an Kraft unterlegen zu sein. Gleichzeitig machte mich seine Stärke und Unerschrockenheit an. Andere Männer hatten Angst vor mir. Das ermüdete mich. Lomond hatte keine Angst. Und ich war hellwach.
Ich kniete ihm gegenüber auf dem Bett - Gesicht an Gesicht - und dachte fieberhaft nach, wie es nun weitergehen sollte. In mir brodelte die Macht der allzu menschlichen Neigung, mein körperliches Verlangen zu befriedigen, zugleich erwachte ein unbändiger Zorn in mir. Ich wollte Lomond töten. Oder wollte ich mich ihm hingeben? Mir holen, wonach mein Körper verlangte? Ich war wie gebannt. Alles in mir schrie danach, mich fallenzulassen. Und trotzdem, ich konnte nicht aufgeben. Als sich sein Griff endlich löste, tat ich das, was ich am Besten konnte. Es war ein Instinkt, wenn auch ein völlig ungenügender bei einem Gegner wie Lomond. Meine Hand schnellte nach vorne und traf hart und tödlich auf die Region über seinem Herzen. Kein anderer hätte diese Attacke überlebt. Niemand.
Der Schlag tötete Lomond nicht. Tödlich war nur meine Absicht. Das offenbarte mir der Ausdruck auf seinem Gesicht, der diese unverfälscht auf mich zurückwarf. Einen kurzen Moment rang er damit, bei Bewusstsein zu bleiben. Dann traf mich sein eisiger Blick. Da waren Zorn und Verblüffung. Er hatte nicht mit einer Härte wie dieser gerechnet. Sicher, er konnte ja nicht ahnen, wie tief die Kluft ist, die sich durch meine Seele gräbt.
„Du setzt deine Kraft gegen mich ein? Was soll ich davon halten, Chara?“
Bevor ich antworten konnte, war seine Hand an dem Tuch um meine Hüften und einen Lidschlag später war ich nackt. Sein Gesicht hatte sich auf frivole Weise verändert. Sein sonst fast sanfter Ausdruck wirkte verzerrt, seine schwarzen Augen hatten einen gelblichen Glanz angenommen und um seinen Mund ging ein bedrohliches Zucken. Das Tierische in Lomond kam zum Vorschein und ich verlor das Bedürfnis, mein Verlangen zu kontrollieren und ihn bezahlen zu lassen. Jetzt, da wir beide unser wahres Gesicht gezeigt hatten, befiel mich die Gier nach mehr. Ich wollte mehr von diesem abnormen Wesen, mehr von diesem Todgeweihten, dessen Leben dem meinen soviel voraus hatte.
Bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte er meine Taille umfasst und mich zu sich herangezogen. Jetzt konnte ich sein Herz spüren, dass gegen meine Brust schlug. Zwischen meinen Schenkeln fühlte ich etwas anderes pulsieren. Ich konnte die Gier in mir wachsen hören, die mir einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagte. Die Angst, von der ich mich kurz zuvor noch zu meinem Angriff hatte hinreißen lassen, verlor sich in einem Durst nach absoluter Blöße. Meine Haut tat weh vor Verlangen nach seinem Körper, seiner Seele, seiner Liebe. Immer noch knieten wir auf dem Bett, jeder von uns beiden den heißen Atem des anderen auf seinem Gesicht spürend.
Lomonds Lippen berührten meine Stirn, seine Hände umfassten wieder schmerzhaft meine Oberarme. „Wenn du mich lässt, werde ich dein Lakai sein. Wenn du aber denkst, du könntest mich herausfordern ...“ Weiter kam er nicht. Ich hatte meine Hand zwischen seine Beine geschoben. Seine Worte gingen in ein Keuchen über. Selbst ein Vampir kannte Grenzen der Selbstbeherrschung. Lomond hatte sie erreicht.
Ich drückte mich gegen seinen Oberkörper, bis er nachgab und sich rücklings auf das Bett fallen ließ. Meine Hand wanderte von seinem Schritt aufwärts, über seinen Hals, sein Kinn, bis zu seinem Mund. Ich schob meinen Finger zwischen seine bleichen Lippen und bewegte ihn dazu, sie zu öffnen. Ich küsste ihn. Meine Zunge strich seine Oberlippe entlang, bis sich sein Kiefer entspannte. Wie mechanisch glitt mein Zeigefinger zu einem seiner spitzen Eckzähne, drückte sanft dagegen. Dann führte ich meinen Hals an seine Lippen, damit er das sanfte Pulsieren meiner Arterie spüren konnte. Ich bemerkte, wie er mit seiner Beherrschung rang, fühlte sein Lechzen nach meinem Blut. Seine Qual, hervorgerufen durch die erzwungene Zurückhaltung, war berauschend. Ich spielte mit dem Tod und hätte jederzeit mein Leben verlieren können. Doch Lomond hatte eine klare Regel. Und er hatte trotz seiner Begierde vor, sich an diese zu halten. Ich hingegen wünschte mir in diesem Moment nichts sehnlicher, als mit ihm in den Tod zu gehen.
„Was tust du?“, flüsterte er und in seinen Augen blitzte erneut dieses abnorme gelbe Licht auf.
„Ich will deine Zähne spüren, Lomond.“
Seine Hände strichen über meine Brüste und wanderten über meinen Bauch nach unten. Ich hielt sie davon ab, zwischen meine Beine zu gleiten, indem ich erneut seine Handgelenke packte.
„Du willst meine Zähne spüren? Das wäre unklug. Oder nicht?“ Er lächelte das maliziöse Lächeln, das mich mehr als einmal aus der Fassung gebracht hatte. Ich lächelte nicht. Stattdessen zog ich mein Knie über seine Körpermitte und stand auf. Ich wusste, dass er nicht vorhatte, mich zu beißen. Eher würde er sich selbst einen Bolzen ins Herz rammen. Warum wehrte er sich dagegen?! Wegen Al’Jebal? Was scherte ihn Al’Jebals Ambition, mich am Leben zu halten?
„Wieso willst du sterben, Chara?“, flüsterte er. „Du hast ein Leben. Du bist ein Mensch. Der Tod wird dich noch früh genug ereilen.“
Ich wollte nicht reden. Schon gar nicht über meine geheimsten Gedanken und Gefühle.
„Was, wenn ich dich tot nicht will?“
Ich drehte mich um. „Was soll das heißen?“
„Ich will dich, Chara. Aber lebendig.“
Ich schritt an den schweren Tisch heran, auf dem noch mein Gürtel lag, griff mir die Pfeife aus dem Beutel und stopfte sie. All mein Verlangen war im Zorn über Al’Jebals immerwährende Präsenz verpufft. Ohne meine Augen von Lomond zu lassen, zündete ich die Pfeife an und setzte mich auf die Tischplatte. Lomond beobachtete mich. Er wirkte durch meinen plötzlichen Rückzug nicht im Mindesten verunsichert. Ich fragte mich, ob einen Menschen seines Alters überhaupt noch etwas überraschen konnte.
Ein paar Mal nahm ich einen tiefen Zug und genoss die Wirkung der Droge, die meine sachlichen Gedanken sanft aber nachdrücklich in eine Wolke aus berückenden Emotionen zog. Dann redeten wir über irgendetwas Belangloses. Denke ich jedenfalls. Ich kann mich nicht erinnern.
Lomond ließ mich nicht aus den Augen. Ich genoss es, seinen Blicken ausgeliefert zu sein. Ich genoss es, seinen klar strukturierten, vollkommenen Körper zu begutachten, sein dunkelbraunes, dichtes, nicht zu kurzes Haar, das ihm gerade bis in den Nacken reichte und einen leicht verruchten Eindruck auf sein Gesicht zauberte. Er war schön. Für meinen Geschmack fast zu gutaussehend. Hätte er nicht diese undurchsichtigen, faszinierend eigenwilligen Gesichtszüge, hätte ich ihn nicht für anziehend befunden.
Das sanfte Pochen zwischen meinen Schenkeln kehrte zurück. Nur seiner Nähe wegen, der Aussicht auf das, was da kommen mochte und der Gewissheit, dass er anders war, als alle anderen. Er würde mich nicht unbefriedigt zurücklassen, dessen war ich mich sicher. Mochte ihn Al’Jebal davon abhalten, mich in den Tod zu reißen. Der Meister würde es nicht verhindern können, dass der Vampir mich vögelte wie kein anderer. Ich nahm noch einen Zug und senkte für einen Moment meinen Blick.
Als ich wieder aufsah, stand Lomond vor mir. Keine Ahnung, wie er von dem Bett so schnell bis zum Tisch gekommen war. Seine Schnelligkeit war beängstigend. Seine plötzliche Nähe ließ mein Herz wieder schneller schlagen. Lomond drückte meine Knie auseinander und drängte sich zwischen meine Schenkel. Die Pfeife fiel klackernd zu Boden. Meine Finger krallten sich in seine Schultern, meine Nägel in seine Haut, bis warmes Blut unter ihnen hervorquoll. Ich presste meine Beine gegen seine Hüften und leckte über sein Ohr.
„Tu es, Lomond“, hörte ich mich flüstern.
Er packte meine Unterschenkel. Meine Muskeln spannten sich und er zog mich zu sich heran. Meine Lederstiefel kratzten über seine Haut, als ich meine Beine um ihn schloss und mein Becken gegen seines drückte.
Und dann drang er in mich ein. Ich spürte, wie ich dem Druck nachgab. Als hätte er den Hebel gefunden, der meinen Willen aus seiner Verankerung brach, fiel die Barriere zwischen der Mörderin und der Liebenden und mein Bedürfnis nach Selbstkontrolle verlor sich in dem Wunsch, loszulassen. Ein nie erlebtes, unbeschreibliches Gefühl drang tief aus meinem Inneren an die Oberfläche. Erleichterung und Lust durchströmten mich wie ein warmer Fluss. Ich vergrub meine Hände in seinem Haar und ließ mich von den lodernden Flammen in meinem Inneren verzehren, ließ die heißen Wogen der unerträglichen Sehnsucht danach, zu herrschen und beherrscht zu werden über mich hereinbrechen und die Ketten fallen, die sich über all die Jahre um meine Seele geschlungen hatten. Mein Stöhnen war mehr als der Genuss von Fleischeslust. Es war der Schrei eines Beutetiers, nachdem die Krallen des Habichts es freigegeben hatten und das Blut zurück in seine Venen schoss.
Ich atmete aus und blies den Schmerz des Verzichts, den Verdruss der Unterdrückung, die Last des Gehorsams hinaus in den Raum. Ich ließ mich fallen. Lomond war in mir, über mir, um mich. Ich fühlte ihn überall. Er war da. Er war wirklich da. Nicht nur in meinem Kopf, oder meinen Träumen. Er war da, weil er mich ebensosehr wollte, wie ich ihn.
Als ich meine Augen öffnete, war sein Gesicht unmittelbar vor meinem.
„Was kümmert es die Ewigkeit, dass ich am Leben bin.“ Es war ein Gedanke, der mich kalt erwischte und ich sprach ihn aus. Lomonds süffisantes Lächeln kehrte zurück und ich erwiderte es. Auf unser beider Stirn stand der Schweiß der Begierde. Ich sagte: „Nimm dir mein warmes Blut!“
Sein Lächeln wurde breiter, obwohl er seiner Gier auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Obwohl ihn die Versuchung, sich zu holen, was er begehrte, wie ein unbezwingbarer Panzer umschloss, besiegte Lomond seine Neigung. Ich konnte seine Willensstärke in seinen Augen erkennen und gab auf.
Wir fielen übereinander her, wie Bestien, die ihr Revier verteidigten. In den Körper des jeweils anderen gekrallt, kämpften wir uns durch alle Schichten unserer ambitionierten Leidenschaft und der Sucht nach Befriedigung sämtlicher Bedürfnisse. Menschlicher wie unmenschlicher. Was sich in dieser Nacht zwischen mir und Lomond abspielte, war der blanke Krieg zweier Wesen, die, jedes auf seine Art, dem Tode nahe waren und gegen die Leblosigkeit zu Felde zogen. Mal kämpften wir Seite an Seite, mal gegeneinander. Doch weder Lomond noch ich suchten den Sieg über den anderen oder hofften auf seine Niederlage. Keiner von uns wollte etwas entscheiden. Alles was wir wollten, ich denke er so wie ich, war die absolute Blöße und den Kampf an und für sich. Und wir wollten die Lust, eine Lust ohne Einschränkung oder Vorbehalte.
Ich verlor mich in dem Hass, den er empfinden konnte, ohne die Liebe außen vor zu lassen. Ich verlor mich in meinem Hass gepaart mit der berauschenden, nicht vorherzusehen gewesenen Sucht nach Nähe und Gefühl. Der Raum um uns herum, der große, leere Raum, erschien mir plötzlich zu klein. Wir waren überall. Auf dem kalten Steinboden, dem Bett, dem Tisch, auf den Stühlen, auf dem Teppich vor dem Kamin … Sein Geruch betörte mich, seine Hände waren sanft und brutal zugleich und entließen mich in das wiedergewonnene Leben, das heiß und wild durch meine Venen pulsierte. Seine Bewegungen waren die eines Mannes, der seinen Körper kannte und mit ihm eins war. Seine Haut verführte mich dazu, Furchen in sie zu graben, um ihre blass schimmernde Vollkommenheit mit einem Hauch von Verfall zu überziehen.
Er blutete. Ich ließ ihn die Kraft der Zerstörung fühlen. Er genoss die Macht des Schmerzes. Doch auch ich fühlte Schmerzen, die bislang keinen Zugriff auf mich hatten. Er verletzte nicht meinen Körper, doch er schaufelte meine Seele frei und schaffte es auf diese Weise, die Narben meiner Narretei … den Wunsch danach, beherrscht zu werden und meinen inneren Drang, mir mein eigenes Verlangen mit Gewalt abzubinden … aufzureißen und bluten zu lassen. Und diese, seine Macht war berauschend. Sie zog mich hinunter auf den Grund meines Ichs, wo Chara beides war – dienend und herrschend, mordend und liebend.
Der Morgen graute, als mich die Kraft verließ. Die Erschöpfung übermannte mich ohne Erbarmen. Ich fühlte jeden Muskel in mir brennen, jeden meiner Nerven vibrieren. Lomond war noch lange nicht am Ende. Er war erschöpft, stellenweise blutete er noch, während andere Risse in seiner Haut, zum Teil verursacht durch meine bloßen Hände, zum Teil durch die Kanten der Möbel, gegen die ich ihn gestoßen hatte, längst verheilt waren. Er wirkte nur halb so angeschlagen wie ich. Normalerweise fällt es mir schwer, mir Schwäche einzugestehen. Doch nicht in dieser Nacht, nicht bei einem Krieg dieser Art, einem Gegner, wie Lomond.
Ich habe vergessen, wie ich bis zum Bett gekommen bin. Jedenfalls erwachte ich auf dem dunkelroten Laken. Eine Hand legte sich warm und schwer auf meinen Bauch. In meinem Kopf erklang Lomonds Stimme ein letztes Mal - sanft und betäubend:
„Dein Blut ist es wert, durch deinen Körper zu fließen. Dein Blut macht mich lebendig, auch ohne dass ich es koste, es schmecke, es schlucke.“
Noch am selben Vormittag betrat ich mein Zimmer in Tamang und ertrank in einem Meer aus weißen Rosen. Da wurde mir bewusst, dass ich trotz allem scheitern würde. Mein neu gefasster Entschluss, Al’Jebal ausschließlich zu dienen, verpuffte. Er verdünnisierte sich einfach, als ich all die weißen, noch kaum knospenden Rosen sah, die sich über den Boden, die Möbel, meinen Tisch verteilten. Und als ich erkannte, was dort zwischen all dem Weiß hervorblitzte - schwarz, in voller Blüte und dem Verfall gewachsen - da brach auch die letzte Barriere. Al’Jebal hatte mich besiegt. Endgültig.